Akademie der Künste / Martin-Gropius-Bau, Berlin

Mit den Füßen auf dem Boden: Eine Schau mit Istanbuler Kunst

Die Männer, die sich im Halbkreis um das Geschäft versammelt haben, lächeln nicht. Sie starren. Schubsen sich gegenseitig zur Seite, um besser sehen zu können. „FOR SALE“, die blonde Frau tippt auf das Pappschild in ihren Händen. Sie gibt den Blick zurück, schaut die Männer direkt an. An den Türrahmen gelehnt, winkt sie ihnen aufmunternd zu, lässt den Träger ihres schwarzen Negligés von der linken Schulter rutschen, zeigt ihre nackte Brust.

 

„Bordell“ nennt die 1962 in der Türkei geborene Künstlerin Sükran Moral ihr neunminütiges Video, das 1997 entstand. Der Regisseurin, die zugleich als Darstellerin in ihrem Film auftritt, gelingt es, der realen Szene eine poetische Dramaturgie zu verleihen. Mit türkischen, rhythmischen Gesang und Trommeln sind die Bilder unterlegt – ein Verehrer spielt für die Frau.

 

Sükran Moral setzt sich in ihren Performances Grenzerfahrungen aus, die bis zum Verlust des eigenen Ansehens und der körperlichen Unversehrtheit gehen, etwa in „Bordell“ oder in „Galatasaray Hamam“, einem Film, in dem sich Sükran Moral in einem Dampfbad von einem Mann waschen lässt.

Beide Videoproduktionen sind am Pariser Platz in der Berliner Akademie der Künste zu sehen, die mit einem dreiteiligen Ausstellungskomplex „Istanbul Next Wave. Gleichzeitigkeit – Parallelen – Gegensätze“ zeitgenössische Werke der Bosporus-Metropole vorstellt. Damit präsentiert sich Istanbul erstmals als Kulturhauptstadt 2010 mit seiner Kunst in Europa. Zugleich zelebrieren Berlin und Istanbul ihre 20-jährige Städtepartnerschaft.

 

Das Gesicht der Moderne

„Ich würde Ärger bekommen, wenn ich behaupten würde, es wäre die spannendste Stadt der Welt“, lacht Klaus Wowereit und erklärt bei der Pressekonferenz, dass er sich selbst als Bürgermeister einer „zum Teil türkischen Stadt“ fühle.  Sein Amtskollege Kadir Topbas betont den Fortschrittswillen der Türkei, insbesondere der Kunstszene. Längst seien nicht mehr nur staatliche Förderungen bestimmend, „private Sammler bringen mittlerweile ganz andere Künstler hervor.“ Seine Stadt könne nun endlich das „Gesicht der Moderne“ zeigen, das man von der Türkei immer noch zu selten erwartet.

 

Die Schau ist thematisch aufgeteilt und wird an drei Orten gezeigt - und besitzt doch einen Schwerpunkt: Das Kuratorenteam (Beral Madra, Levent Calikolu, Cetin Güzelhan, Johannes Odenthal) fokussierte auf Künstlerinnen. Der Titel der Schau am Pariser Platz ist eine Hommage an die türkische Frauenbewegung: „Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel“ forderten im Mai 1987 Feministinnen in Istanbul und demonstrierten gegen Rollenzuschreibungen.


Der angestrebte EU-Beitritt habe die Türkei bereits jetzt für immer verändert, trotzdem sei ein „Boden unter den Füßen“ lange noch nicht selbstverständlich in einer weitgehend patriarchalischen Gesellschaft, sagt Beral Madra. Arbeiten von 17 Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen suchte die Kuratorin aus, repräsentativ für eine Kunstszene, in der „Frauen die Freiheit haben, sich auszudrücken, sehr viel mehr als in der akademischen Welt oder der Politik“. Selbstbewusst, individuell und politisch setzen sich die Künstlerinnen mit Religion, Geschlechterrollen, Migration, Krieg oder Zensur auseinander.

 

Terrorfabriken

Nicht ohne zu provozieren wie etwa Nazan Azeri mit ihrer Fotoserie „Traumrollen“: Vier Obdachlose posieren vor der Kamera in Secondhand-Outfits, ohne ihre Identität, die eigene Erfahrung abzustreifen. Mal abgelichtet wie ein verliebtes Paar, dann als Mafiosofamilie in Szene gesetzt oder als nette Nachbarn.

 

„Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul“ in der Akademie-Zweigstelle am Hanseatenweg setzt explizit auf Konfliktpotenzial. Die Hände in Unschuld waschen – Balkan Naci Islimyeli kehrt dieses Bild in seiner Videoarbeit „Blut haftet“ (1995) um. Irfan Önürmen baut eins zu eins in seiner „Terrorfabrik“ Maschinengewehre und Bomben aus Zeitungspapier. Und auch hier fällt die Arbeit der Künstlerin Sükran Moral auf: Vor einer Fotografie auf der eine Schwangere in der Pose des Gekreuzigten zu sehen ist, liegen in mehreren Reihen aufgebahrt Leichen, in weiße Leinen verschnürt. 

 

Rückblick

Die Schau „Istanbul Modern Berlin“ im Martin-Gropius-Bau gibt einen Überblick über die wichtigsten Kunststationen der türkischen Moderne, über kontroverse Auseinandersetzungen mit westlichen Positionen und verbindet die aktuelle Kunstproduktion Istanbuls mit historischen Entwicklungsprozessen. Sie bietet die Basis, den Nährboden für die zwei anderen Extremschauen.

 

Istanbul sei eine Stadt der Toleranz, ein Treffpunkt der Kulturen, sagt Kadir Topbas. Dort, zwischen Orient und Okzident, geht die internationale Kunstszene längst ein und aus. Dass die Modernisierung vom Zentrum bis in jede Hinterstube des Landes dringt, bleibt noch Utopie. Aber dass es eine Bewegung gibt, die immer höhere Wellen schlägt, ist unübersehbar. Und auch von wem sie getragen wird: den türkischen Frauen.

 

Bis 17. Januar 2010 in der Akademie der Künste, Hanseatenweg und Pariser Platz und im Martin-Gropius-Bau. Mehr Informationen unter www.adk.de