Insta-Watchlist mit Griffé La Revue

"Mode ist eine kollektive Leistung"

In der Rubrik Insta-Watchlist stellen wir Kreative vor, denen es auf Instagram zu folgen lohnt: Salomé Dudemaine und Julien Sanders sammeln mit Griffé La Revue die Stimmen der Modegeschichte, die man selten hört

Während Kreativdirektoren wie etwa Karl Lagerfeld oder Tom Ford eindeutig Modelabels wie Chanel oder Gucci zugeordnet werden können, kennt man kaum eine Näherin, einen Lieferanten oder eine Verkäuferin, die im Hintergrund für den Erfolg der Marken sorgen. Dadurch bleiben wichtige Perspektiven im Verborgenen, ohne die die vollständige Entstehungsgeschichte eines Modehauses kaum zu rekonstruieren ist. Salomé Dudemaine und Julien Sanders füllen diese Lücken und teilen auf ihrem Instagram-Account @griffe.revue rare Einblicke in ihre Archivarbeit. Wir haben mit Sanders gesprochen.


Julien Sanders, können Sie sich kurz vorstellen und beschreiben, wer Sie sind und was Sie tun?

Salomé und ich kommen beide aus der Welt der Modearchive, haben jedoch unterschiedliche Wege eingeschlagen. Salomé hat an der École du Louvre in Paris studiert und wurde Modehistorikerin, während ich in Brüssel an der École des Arts & Métiers studierte, um Antiquitätenhändler zu werden. Wir haben uns vor fünf Jahren kennengelernt und schnell festgestellt, dass wir gemeinsame Interessen und Tätigkeiten haben, insbesondere in der Recherche und Arbeit mit seltenen Archiven – aber nicht nur das. Seitdem haben wir Griffé Studio gegründet, eine Agentur, die Marken dabei unterstützt, ihre ungenutzten Archive wieder zum Leben zu erwecken und sie als ein starkes Kommunikationsmittel zu nutzen. Wir haben festgestellt, dass viele Modehäuser über eine Fülle von nicht-textilen Archiven – Dokumente, Fotografien, Objekte – verfügen, ohne zu wissen, wie sie diese präsentieren können. Doch gerade diese Elemente erzählen einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte und können sowohl intern als auch extern eine starke kommunikative Kraft entfalten.

Was ist Ihr Ziel bei dieser Arbeit?

Unser Ziel ist es, neue Erzählweisen zu schaffen, die eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen, ohne in eine statische Nostalgie à la "früher war alles besser" zu verfallen. Griffé Studio ist die erste Agentur, die sich darauf spezialisiert hat, Markenarchive ans Licht zu bringen und ihr Erbe auf eine dynamische und zeitgemäße Weise zu vermitteln.

Wie kam es weiterhin zu der Griffé La Revue?

Schon früh habe ich Salomé von meinem Wunsch erzählt, ein Buch zu schreiben, da ich feststellte, dass in Modemagazinen und Mode-Geschichtsbüchern immer wieder dieselben Geschichten erzählt wurden. Dabei steckt hinter jeder Kreation und Kollektion vor allem eine kollektive Arbeit. Mode entsteht oft durch Begegnungen – es wurde Zeit, diese verborgenen Narrative ans Licht zu bringen und das, was hinter den Kulissen geschieht, sichtbar zu machen. Statt uns nur auf einen künstlerischen Leiter oder die Designs selbst zu konzentrieren, wollten wir die Biografie einer Marke durch all die mitwirkenden Stimmen erzählen. Auf diese Weise tragen wir auf unsere Art dazu bei, die Modegeschichte zu dekonstruieren und neu zu gestalten. Unser Ansatz legt den Fokus auf ein anderes Storytelling, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht.

"Mode, erzählt von denen, die sie machen" ist Ihr Slogan. Sie erzählen die Geschichte eines Modehauses durch "all jene, die Mode im Schatten oder im Licht am Leben erhalten." Können Sie erklären, wie Sie das tun und warum es so wichtig ist?

In der Revue erforschen wir die Genealogie einer Marke. Zum Beispiel haben wir für Kenzo über 70 Personen interviewt – eine Arbeit, die größtenteils nie vom Modehaus selbst durchgeführt wurde. Wir recherchieren, wer diese Personen sind, welchen Beitrag sie geleistet haben, und vor allem sammeln wir ihre Erinnerungen. Diese Zeugnisse geben wertvolle Einblicke in die Funktionsweise des Unternehmens: Sie zeigen die Strategien, mit denen es sich weiterentwickelte, die Lösungen, die gefunden wurden, um Herausforderungen zu bewältigen, die Atmosphäre jener Zeit sowie die Schlüsselmomente in der Geschichte der Marke. Diese Aspekte werden selten besprochen, sind aber von entscheidender Bedeutung für die Traditionspflege. Denn nur, wer seine Vergangenheit kennt, kann seine Zukunft bewusst gestalten – besonders für Marken, die einen Teil ihrer Inspiration aus ihren Archiven schöpfen.

Die Zeitzeugen von damals müssen schon recht alt sein.

Ja, unsere Arbeit ist dringend, da wir oft mit Personen sprechen, die inzwischen über 70 oder 80 Jahre alt sind – Menschen, die in den 1970er-Jahren um die 25 waren. Zwischen zwei Ausgaben kommt es vor, dass einige unserer Zeitzeugen sterben, und in 95 Prozent der Fälle sind wir die Einzigen, die ihre Geschichten festgehalten haben. Sie hinterlassen uns ein einzigartiges und unschätzbares Zeugnis über die Marke, so wie sie sie kannten. Für die Kenzo-Ausgabe beispielsweise interviewten wir den ersten CEO Gilles Raysse. Es war das erste Mal, dass er seine Vision und Strategie erklärte, mit der er Kenzo zu einer international anerkannten Marke machte. Zwei Monate nach unserem Interview starb er.

 

Wie unterscheiden sich der Blickwinkel und die Geschichten der Menschen hinter einer Marke von denen, die im Rampenlicht stehen?

Er ist anders, weil auch das Spielfeld eines kreativen Direktors ein anderes ist. Zum Beispiel haben sie selten direkten Kontakt mit den Lieferanten und wissen daher nicht immer, welche mühsamen und experimentellen Prozesse eine Fabrik durchläuft, um ihre kreative Vision umzusetzen. Das ist völlig normal – es ist nicht ihre Aufgabe. Doch es ist essenziell, auch diese Persönlichkeiten zu interviewen. Mode ist in erster Linie eine kollektive Leistung, und es ist entscheidend, diese Dimension zu würdigen.

Haben Sie ein Beispiel? 

Für Griffé Mugler erzählte uns Vera Strubi, die Frau hinter dem weltweiten Erfolg von Muglers Parfum "Angel", wie sie persönlich zu den Glasmachern ging und den Mitarbeitern die Modenschauen auf Bildschirmen zeigte, damit sie die Vision von Manfred Thierry Mugler verstanden. Eine Anekdote: Nachdem sie das Video gesehen hatten, stand ein Mitarbeiter auf und sagte: "Ich weiß, wie wir eine sternförmige Flasche herstellen können!" – nach monatelangen vergeblichen Versuchen. Dies ist eine Geschichte, die ein künstlerischer Leiter selbst niemals hätte erzählen können.

Wie finden Sie die Personen, mit denen Sie sprechen müssen? Und sind sie immer bereit, ihre Geschichte zu erzählen?

Es ist eine echte Ermittlungsarbeit, fast wie ein Kriminalfall. Wir haben einige Namen und begeben uns dann auf die Suche nach Informationen – wir durchforsten Facebook, LinkedIn. Manchmal haben wir sogar jemanden über Hashtags auf Instagram gefunden. Für die Ausgabe über Mugler waren wir entschlossen, eine Näherin zu finden, die in dessen spektakulärer Werkstatt gearbeitet hatte. Niemand hatte einen Kontakt zu ihr. Wir haben auf Facebook recherchiert und sind auf einen Artikel über den Tod des Designers gestoßen. Das war ein echter Glücksfall für uns: Dutzende von Menschen teilten darin ihre Erinnerungen an die Werkstatt. Also schickten wir unzählige Nachrichten, und einige Tage später meldete sich eine Näherin. Mit ihr sind wir an den Ort zurückgekehrt, an dem sie einst gearbeitet hatte. Es war ein intensiver und zutiefst bewegender Moment.

Einige Menschen sind für den Aufbau einer Modemarke genauso wichtig wie die Person im Rampenlicht, erhalten aber keine öffentliche Anerkennung. Glauben Sie, dass diese Menschen frustriert darüber sind? Oder sehen sie ihre Arbeit einfach als ihren Beitrag an und sind zufrieden damit, wie sich die Marke entwickelt hat?

Wir glauben, dass dies wirklich von der Persönlichkeit abhängt. Die meisten Menschen, die in der Modebranche arbeiten, akzeptieren dieses System – so ist es auch in der Musik- oder Filmindustrie. Dennoch halten wir es für wichtig, zu erklären, wie Dinge ablaufen. Wir wollen den Blick auf diese Figuren hinter den Kulissen lenken. Besonders spürbar wird dies, wenn wir ehemalige und aktuelle Mitarbeiter eines Hauses zusammenbringen. Es entsteht ein echter Austausch, und die heutigen Mitarbeiter sagen uns oft: "Falls ihr wollt, können auch wir euch unsere Geschichten erzählen." Das zeigt, dass es einen realen Bedarf nach Austausch und Weitergabe gibt. Letztendlich schmälert dies nicht das kreative Talent des künstlerischen Leiters – ganz im Gegenteil.

Welches war das interessanteste Interview, das Sie bisher geführt haben?

Bei mir war es das Treffen mit Mic, der legendären Verkäuferin der ersten Thierry Mugler Boutique. Nach wochenlanger Recherche kam ich schließlich bei ihr in der Bretagne an. Es war unglaublich: Sie hatte immer noch dieselbe Frisur wie in den 1980er-Jahren, nur mit ein paar grauen Strähnen mehr. In ihrer Garage hatte sie ihre Thierry Mugler Boutique originalgetreu nachgebaut. Sie spielte sogar die Rolle der Verkäuferin von damals – und servierte Champagner. Ein surrealer Moment, den ich niemals vergessen werde – und den ich nur durch Griffé erleben konnte. Aber ehrlich gesagt, ist es schwer, nur eines auszuwählen. Diese Begegnungen sind oft sehr bewegend. Wir haben so viele Anekdoten und prägende Momente, dass wir manchmal selbst erstaunt sind, wie ehrgeizig unser Projekt war. Doch all diese Begegnungen lassen uns die Momente des Zweifelns vergessen.

Und welches war es für Salomé?

Für Salomé war es unser Treffen mit Roy Krejberg, der in den 1990er Jahren die gesamte Herrenlinie von Kenzo neu erfand und sie bis in die frühen 2000er zu einem großen kommerziellen Erfolg machte. Seine Erzählung zeigt perfekt, was wir den Marken vermitteln wollen: Er erzählte uns, wie er tief in die Archive des Hauses eintauchte, ohne in Plagiate oder bloße Kopien zu verfallen. Er brachte eine zeitgenössische Reflexion ein, indem er Einflüsse von Helmut Lang oder Jil Sander integrierte, während er gleichzeitig den Geist von Kenzo Takada bewahrte.

 

Was unterscheidet Sie von anderen Modemagazinen und -archiven?

Wir sehen uns nicht als Modemagazin. Im Gegenteil: Wir definieren uns als Gegensatz zu ihnen. Sie sind in ihrem Bereich hervorragend, warum sollten wir dasselbe tun? Tatsächlich nennen wir unsere Publikation "Revue" und nicht "Magazin". Oft reagieren unsere Leser beim ersten Anblick von Griffé mit: "Aber das ist ja eigentlich ein Buch!" Wenn man Griffé kauft, erwirbt man etwas Einzigartiges über die Modegeschichte und -archive. Wir arbeiten langfristig, während Magazine meist auf Aktualität fokussiert sind. Unsere Geschichten passen nicht in dieses Tempo. Zudem präsentieren wir 97 Prozent bisher unveröffentlichte Bilder. Es gibt sehr wenige Modefotografien, sondern hauptsächlich Archivmaterial der Marken und exklusive private Sammlungen. Griffé ist als ein zeitloses Objekt gedacht, eine Revue, die bleibt.

In Ihrer letzten Ausgabe, Nummer 3 über Kenzo, haben Sie beispielsweise alle Labels seit den Anfängen recherchiert. Was ist Ihr Ziel mit diesem detaillierten Blick in die Vergangenheit?

Seit unserer ersten Ausgabe über Margiela haben wir eine Zeitleiste der Labels erstellt. Dies gehört zur DNA unserer Revue und zeigt unseren Anspruch, ein Objekt zu schaffen, das über die Zeit Bestand hat. Das passt auch zur steigenden Bedeutung von Vintage-Mode, wo es immer mehr Bedarf gibt, Stücke zeitlich einzuordnen und zu bewerten. Labels sind oft unser Ausgangspunkt, da sie viel über die Funktionsweise eines Hauses verraten. Sie sind oft mit Begegnungen oder Anekdoten verbunden, die wir in Griffé erzählen. Eine unserer liebsten Geschichten? Eines der ersten Thierry-Mugler-Labels wurde von seiner ersten Assistentin mit ihrem Lippenstift entworfen.

Wie wählen Sie die Designer und Modehäuser aus, über die Sie in Ihrer Revue berichten?

Wir arbeiten mit Marken, die Lust auf Zusammenarbeit haben und eine andere Seite ihrer Identität zeigen wollen. Es ist eine echte Partnerschaft!

Da Sie sich intensiv mit den Anfängen großer Modehäuser beschäftigen, wie sehen Sie die heutige Mode?

Diese Frage wird uns oft gestellt. Um ehrlich zu sein, glauben wir nicht, dass unsere Meinung dazu relevant ist. Was uns interessiert, sind die Geschichten hinter den Marken. Eine Meinung zu äußern, würde riskieren, dass wir entweder in die Falle des "früher war alles besser" tappen oder zu oberflächlicher Kritik neigen.

Manche sehen Mode als oberflächlich und eitel an – als etwas, das keine kulturelle Relevanz hat. Was würden Sie diesen Menschen antworten?

Wir glauben, dass sich die Wahrnehmung verändert. Mode ist heute stärker mit der Kulturwelt verknüpft als je zuvor. Luxuskonzerne investieren in Kunst, Kino und Kreativbereiche. Natürlich spielen Marketing und finanzielle Interessen eine Rolle, aber Mode war immer schon mit Kunst verbunden. Mode wird oft als oberflächlich betrachtet, weil sie mit dem Weiblichen assoziiert wird. Doch Kleidung ist eine Sprache. Sie drückt unsere Beziehung zu uns selbst, zu unserem Körper und zur Welt aus. Mode spiegelt soziale Konstruktionen, Emanzipation und Zeitgeist wider. Das Private ist politisch – das sollten wir nicht vergessen!