KI und Daten in der Mode

Wie viel Prozent rote Kleider hatte der März nochmal genau?

Jedes Kleid ist auch ein Datensatz: Entwurf von Comme Des Garcons bei der Paris Fashion Week, März 2025
Foto: Scott A Garfitt/Invision/AP/dpa

Jedes Kleid ist auch ein Datensatz: Entwurf von Comme Des Garcons bei der Paris Fashion Week, März 2025

Die Fashion-Industrie umgibt etwas Geheimnisvolles, doch immer mehr Akteure benutzen KI für Datenanalysen und Trendvorhersagen. Das wird den Konsum, aber auch die Produktion von Mode verändern

Um Neuigkeiten aus der Welt der Mode in Echtzeit zu erfahren, ist Instagram die perfekte Plattform. In ästhetisch ansprechenden Rechtecken werden wechselnde Kreativ-Direktoren, Kollektions-Highlights und Trend-Recherchen schnell konsumierbar verkündet. Kurze Aktualisierung der Startseite, ein Rundgang durch die richtigen Accounts und schon ist man auf dem neusten Stand. 

Ein besonders berühmtes Profil ist das von @stylenotcom. Es berichtet seit etwa vier Jahren über jedes Event, jeden Positionswechsel, sogar neue Handtaschen und Kampagnen-Gesichter und nutzt dafür weiße Schrift auf azurblauen Kacheln. 479.000 Follower verzeichnet der Account des Georgiers Beka Gvishiani mittlerweile. 

Er verzichtet auf journalistische Einordnung und preist selbst wenig inspirierende Kollektionen an. Reine Information hier also. Immer öfter postet er gesponserten Content, den ausgewählte Marken als Miniatur-Werbetafeln nutzen. 

160 Prozent mehr Fransen

Als Antwort auf die seichte und unkritische Berichterstattung tauchte im letzten Sommer @boringnotcom auf. Das Logo des Accounts ist ein gähnendes Emoji, weiße Schrift auf Neongrün die gewählte Farbkombination. Hier werden von einer noch anonymen Person Mode-Spekulationen verkündet, Kollektionen zerrissen und Statusjäger angeprangert. Ein bisschen angelehnt an @dietprada vielleicht: den Account, der vor einigen Jahren Schlagzeilen machte, als er Rassismus in der Modebranche aufdeckte und veröffentlichte. 

Doch neben dem Nachrichten-Livestream wird auch eine andere Kategorie der Mode-Kommunikation immer beliebter. Gerade seitdem uns von Künstlicher Intelligenz unterstützte Programme zur Verfügung stehen, ist die Analyse von Trends und die Prognose neuer Tendenzen durch die Auswertung von Daten zu einem wichtigen Bestandteil der Berichterstattung geworden. 

Heute ist es möglich, jede Schau, jede Kollektion, jeden Modemonat bis ins kleinste Detail zu analysieren und die Ergebnisse mit dem Zeitgeschehen zu verknüpfen. Der Account @tagwalk etwa wertet regelmäßig aus, welche Farben während welcher Modewoche zu wie viel Prozent vorkamen. Auch veranschaulicht er Strömungen, die sonst schwer zu greifen scheinen. +141 Prozent mehr Maßschneiderei, +160 Prozent mehr Fransen, +104 Prozent mehr starke Farbtöne gab es etwa während der Pariser Modewoche im März zu sehen. Die Analyse bricht Chloés Herbst-Winter-Mode auf Romantik, Spitze, Fell, Rüschen und breite Schultern herunter, die meistangeschauten Looks werden vorgestellt, genauso wie die am häufigsten gestreamten Shows einer Stadt. In Mailand waren das in der vergangenen Saison Fendi, Prada und Gucci. 


Der Account @style.analytics von Molly Rooyakkers widmet sich vor allem der datenbasierten Vorhersage von Modetrends. Ihr bisher größter Coup war vermutlich die Trendprognose des "Man Repeller"-Comebacks. Als eine der ersten erklärte sie Anfang März, dass die 2010 von Bloggerin Leandra Medine geprägte Stilrichtung, die nicht Männern, sondern Frauen gefallen soll, in den sozialen Medien jetzt ein Revival erfährt. "Ein bisschen mehr zur Analyse: Ich habe mit Python Kommentare aus bestimmten Threads mithilfe der offiziellen API gesammelt und anschließend in R eine Wortzählung sowie eine Verarbeitung natürlicher Sprache durchgeführt", erklärte sie in einer Caption ihr Vorgehen.  Was bitte?

Sie hat also mit der Programmiersprache Phyton automatisch Kommentare aus bestimmten Online-Diskussionen gesammelt – über eine offizielle Datenschnittstelle. Anschließend hat sie die Texte ausgewertet und gezählt, welche Wörter häufig vorkommen, und mit Methoden der Sprachanalyse inhaltliche Muster untersucht. Was wie eine Rechenaufgabe mit zu vielen Unbekannten klingt, hat letztlich einen Trend erkannt: Kleidungsstücke, die Männer als unattraktiv einordnen, werden wie wild getragen und miteinander kombiniert. Präzise gesagt hoch sitzende Hosen und Shorts, weite Kleidung, spitze Schuhe und übergroße Sonnenbrillen. 

Durch das "Man Repelling" entziehen sich Frauen dem männlichen Blick. Dies ist wohl auch auf die Wiederwahl Donald Trumps und dem damit einhergehenden Triumph der "Manosphere" zurückzuführen. Ein Protest-Look. Sich wiederholende Trendzyklen und neue Bewegungen sind dank Recherchen wie der von Rooyakkers also noch schneller auszumachen und einzuordnen. 


Der Analyse-Account mit der größten Followerschaft ist aber der von Datenwissenschaftlerin Madé Lapuerta: @databutmakeitfashion. Ihre Analysemethode umfasst Bilderkennung und manuelles Tagging im Code mithilfe von selbst entwickelten KI-Erkennungsmodellen. "Trends eine messbare Bedeutung zu geben, hat die Modewelt für mich greifbarer gemacht", sagt Lapuerta in einem Interview mit der "Vogue". "Ich wollte Logik und Transparenz in etwas bringen, das von Natur aus subjektiv ist." 

Sie fand heraus, dass auch ihre Follower Trends bildlich und leicht verständlich dargestellt bekommen wollen und verpackt ihre Erkenntnisse so in unterhaltsamen Memes, Grafiken und Videos. Eine Visualisierung stellt etwa heraus, dass die Popularität des "Duke University"-T-Shirts aus der HBO-Serie "The White Lotus" in den vergangenen Wochen um 42 Prozent zunahm. 

Über einem Foto von Model Bella Hadid im Bikini steht "Sommermode-Trends sind gerade 8,4% beliebter als um diese Zeit im letzten Jahr… heißt das etwa… die Erde… wird wärmer??". Außerdem nimmt Lapuerta Fashion als Rezessions-Indikator auseinander, macht die Auswirkungen von Trumps Zoll-Wahnsinn auf Mode verständlich und zeigt all die Male auf, in denen Anna Wintour Designern Standing Ovations gab (insgesamt fünfmal innerhalb ihrer 37 Jahre bei der US-"Vogue").


Die Wahrnehmung von Mode und ihre Bedeutung hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, die von Mensch zu Mensch variieren. Die Harvard-Absolventin bedient einen der seltenen objektiven Zugänge zur Welt der Mode. Es sind Fakten, Zahlen, schwarz auf weiß. Das bedeutet nicht immer, dass Laufsteg-Looks und das, was tatsächlich getragen wird, übereinstimmen. Als etwa die Strömung "Quiet Luxury" ihren Spitzenwert an Suchergebnissen erreichte, waren in den aktuellen Designer-Kollektionen sichtbare Marken-Logos weit verbreitet. 

Gleichzeitig lenken Lapuertas veröffentlichte Recherchen und die ihrer Kollegen die Follower natürlich in eine bestimmte Richtung. Navy-Blau wird viel gesucht? Gleich mal schauen, was die Marken so anbieten. Der Totenkopf-Schal von Alexander McQueen verbucht in den letzten Tagen ein Plus von 79 Prozent auf der Beliebtheit-Skala? Suche ich direkt auf Vestiaire Collective. Auch, wenn die Vorhersagen keine Garantie bieten, können sie doch beeinflussen, wie sich Suchanfragen als Reaktion auf sie verändern. Einmal als Statistik veröffentlicht, werden sich die Daten vermutlich anpassen und der dargelegten Tendenz folgen. 

Generell gilt: Was letztendlich von der breiten Masse getragen wird, hängt immer auch damit zusammen, wer sich als Vorbild darin kleidet – das kann zwischen Stylisten, berühmten Sängerinnen oder auch Serien-Charakteren schwanken. Und natürlich spielt auch eine Rolle, auf welche generelle Stimmung ein Kleidungsstück oder eine Moderichtung trifft. Madé Lapuerta beschäftigt sich in ihren Untersuchungen zusätzlich mit den Themen Diversität, Umweltbewusstsein und Feminismus. Sie kann Marken bestimmen, die ihre Versprechen nicht halten oder gegen ihr Marketing produzieren – und die Ergebnisse an die potenziellen Kunden weitergeben.

 Wissen, das Kaufentscheidungen beeinflusst

Künstliche Intelligenz wird in der Mode nicht nur in der Voraussage von Trends verwendet. Erst kürzlich machte der schwedische Modekonzern H&M Schlagzeilen, da er eine KI-Version von Models für seine Kampagnen nutzen will. Auch Inditex in Spanien hat für seine Kette Mango schon mit digitalen Klonen gearbeitet. Laut "Vogue Business" wird die KI-Technologie nach einigen Experimenten im Jahr 2024 nun konkret von Modeunternehmen eingesetzt. 

Der Unterwäschegigant Victoria’s Secret etwa nutzt sie zur Personalisierung seines E-Mail-Marketings: jüngere Kundinnen bekommen Bralettes angeboten, ältere dagegen Formwäsche. Swarovski gründete das "KI-Exzellenz-Center", in dem acht Personen die künstliche Intelligenz auf unterschiedliche Geschäftsbereiche anwenden – von Produkt-Empfehlungen bis zum Kundendienst. Auch im Design der Kleidung wird die Technologie in der Optimierung und Varianten-Erstellung eingesetzt. Außerdem kann sie bei Bedarfsprognosen helfen und historische Verkaufsdaten bereitstellen, sodass etwa Überproduktion vermieden werden könnte. 

Erhebliche Umweltbelastungen sind ein negativer Aspekt der Nutzung von KI – in der Mode, wie überall. Kosten und Nutzen müssen hier gut abgewogen werden. Auch fallen Jobs weg, die von der Maschine vielleicht sogar präziser ausgeführt werden können als vom Menschen. KI kann Kunden mit Wissen füttern, das Kaufentscheidungen beeinflusst. Trends und Bedürfnisse werden noch immer durch cleveres Storytelling, gesellschaftliche Ereignisse und als Antwort auf politischen Wandel erzeugt. Künstliche Intelligenz kann aber dabei helfen, das Momentum zu erkennen und es frühzeitig für die eigenen Zwecke zu nutzen – als Marke oder Konsument.