Designerin Nensi Dojaka erhält LVMH-Preis

Im vollkommenen Gleichgewicht

Die albanische Modedesignerin Nensi Dojaka gewinnt den LVMH-Preis, eine der bedeutendsten Auszeichnungen der Branche. In ihren Entwürfen findet sie die richtige Balance zwischen Verletzlichkeit und Stärke, Punk und Eleganz, den 90ern und heute. Ein Porträt

Nensi Dojakas erste an Mode geknüpfte Erinnerung ist die an ein Miu-Miu-Kleid, das sie zu ihrem 16. Geburtstag geschenkt bekam. Die frischeste vermutlich die, als ihr am 7. September 2021 in der Pariser Fondation Louis Vuitton der LVMH-Preis von Isabel Huppert überreicht wurde. "Der LVMH-Preis dieses Jahr geht an die Gewinnerin Nensi Dojaka", verkündete Ehrengästin Huppert in dem futuristischen, von Frank Gehry geplanten und gebauten Museumsgebäude und Dojaka wurde zum Rednerpult geführt. Überwältigt und berührt bedankte sich die albanische Modedesignerin bei den um sie herum verteilten Mitstreiterinnen, Jurymitgliedern und Gastgebern und bekam dann die goldene, sternförmige Trophäe übergeben. Nach einem Küsschen rechts, Küsschen links von Huppert gesellte sie sich wieder zu den anderen Finalisten. Unaufgeregt und chic wie ihr schwarzes, am Körper anliegendes Kleid, wohl eine Eigenkreation, mit blattförmigen, am Hals zusammenlaufenden Cut-Outs, die sich bis auf die Schultern erstrecken.

Ein Schlüsselelement in Dojakas Designs: fehlender Stoff, ausgesparte Formen. Dazu präzise angeordnete, transparente Lagen, durch feine Schnüre zusammen gehaltene, geschoppte, hochwertige Materialien, die genau ausgelotet den Körper umspannen und ausgewählte Stellen bedecken oder entblößen. Ihre Kreationen formen den Körper visuell in eine neue, asymmetrisch Silhouette, scheinen fragil, zierlich und gleichzeitig von kämpferischer Stärke, ausgeklügelt und bedacht erarbeitet.

Immer wieder werden Dojakas Kollektionen, die den 1990er-Jahren entsprungen sein könnten, mit Arbeiten von Helmut Lang und den "Antwerp Six", gerade Ann Demeulemeester, verglichen. Legendäre Modedesigner, die die Designerin selbst als eine ihrer Inspirationsquellen nennt. Man sieht Kate Moss in Nensi Dojakas monochromatischen, halbdurchsichtigen Gewändern durch die früheren 90er spazieren, in einer grunge-igen Leichtigkeit, die die Albanerin in ihren Kleidern heute mit einer selbstbestimmten Weiblichkeit verbindet.

Nensi Dojaka kam mit 16 Jahren aus ihrem Heimatland Albanien nach London, um dort zur Schule zu gehen. Zum Ende ihres Bachelorstudium begann sie, über ihre eigene Marke nachzudenken, die sie dann während ihres Masterstudiums an der renommierten Universität Central Saint Martins entwickelte. Im Februar 2020 zeigte die Designerin ihre Kollektion im Rahmen der London Fashion Week in der Show von Fashion East und hinterließ einen bleibenden Eindruck. "Ein erster Blick auf das, was die albanische Designerin Nensi Dojaka erarbeitet hat, beweist, dass es in der Mode einen Patz für die Stimme junger Frauen gibt, die mit Rücksicht auf ihre Peer-Group entwerfen", hieß es auf "Vogue Runway" damals als Rezension, Und: "Mit ihrem Look werden sich viele junge Frauen identifizieren können. Er entsteht aus echtem Können und einem weiblichen Instinkt, Dinge zusammenzusetzen. Wenn Mode trotz aller Schwierigkeiten eine Zukunft haben soll, braucht sie solche Talente."

Ihr Talent wurde nun erneut bestätigt. Der LVMH-Preis ist einer der bedeutendsten, der in der Mode vergeben wird, und wurde vom Luxuskonzern LVMH Moët Hennesy - Louis Vuitton als Unterstützung für aufstrebende Modedesigner im Jahr 2013 eingeführt. Nensi Dojaka setzte sich dieses Jahr gegen 1900 Teilnehmer aus 110 Ländern durch und folgt damit Thebe Magugu, Marine Serre und Grace Wales Bonner. In der Jury saßen unter anderem Kim Jones, Marc Jacobs, Stella McCartney und Virgil Abloh. "Der LVMH-Preis ermöglicht das Entstehen einer neuen Generation von Designern", heißt es auf seiner Website, denn mit ihm können die Gewinner ein Preisgeld von 300.000 Euro und ein Mentorship von Führungskräften des französischen Luxuskonzerns für ein Jahr entgegennehmen. So auch Nensi Dojaka.

Und trotzdem war der gestrige Dienstag vielleicht gar nicht der beste Tag ihres Lebens, nein, denn der war ziemlich sicher am 30. August 2020, als Hypermodel Bella Hadid einen Total-Look von Nensi Dojaka zu den 2020 MTV-Video-Music-Awards trug. Der Stylist Carlos Nazario hatte Hadid mit der Marke vertraut gemacht, und so trug sie ein Outfit der albanischen Designerin als Erste auf dem roten Teppich - das Top und die Hose waren am nächsten Tag auf SSENSE.com, Nensi Dojakas größtem Vertreiber, ausverkauft. Auch die Models Kaia Gerber, Emily Ratajkowski und die französische Influencerin Camille Charriere präsentieren sich regelmäßig in Dojakas Kreationen.


Es stimmt also: Die dekonstruierten Spaghetti-Kleider zwischen Unterwäsche und Klamotte, pure Understatement-Sexiness, werden unheimlich gut von den Peers der 28-jährigen Designerin angenommen, die die 90er-Dekade modisch gerade erneut durchleben. 30 Jahre, das ist der Richtwert, nach dem vergangene Trends sich wiederholen. Und während sich die heute 30-Jährigen nicht mehr wirklich an die Zeit erinnern können, die Dojaka in ihren Designs zitiert, ist vielleicht gerade das das Spannende. Die Neuinterpretation einer Ära, die nur Dank Dokumentationen erlebt werden kann. So fern und doch so nah. "Ich habe so viel in Zeitschriften der 90er Jahre recherchiert, weil ich die Kleidung, die Ästhetik und sogar die Art und Weise, wie die Bilder damals aufgenommen wurden, liebe. Sie haben etwas Rohes und Seelenvolles, das ich unbedingt zurückbringen möchte", so die Designerin.

Was haben Dojakas Kleider an sich, dass sie ein solches Verlangen auslösen? Es ist wohl die Balance zwischen Stärke und Sanftheit, die den Designs innewohnt. Weiblichkeit und Sinnlichkeit liegt bei der Dojaka-Trägerin darin, sich so zu zeigen, wie sie gesehen werden möchte. Die dünnen, transparenten Stoffe stehen nicht für Sexualität, sondern für die Macht der selbstbestimmten Entblößung. Es herrscht eine kontrollierte Ausgeglichenheit zwischen Verletzlichkeit und Stärke, Punk und Eleganz, den 90ern und heute.

So sagt Nensi Dojaka selbst: "Es gibt diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und Dualität, mit der ich viel spiele, und das ist definitiv, wie ich die Ästhetik der Marke zusammenfassen würde." Sie wird auch mit der griechischen Designerin Sophia Kokosalaki verglichen, deren Kollektionen den Bogen von altehrwürdigen, griechischen Gewändern zu sexy Rockstar spannten. Als Kundin und Trägerin ihrer Designs beschreibt Dojaka eine selbstbewusste Frau, die sich nicht scheut, anders auszusehen oder mit dem Vorurteil eines "hübschen Kleides" zu brechen. Ein Kleid, in dem die Trägerin sich gleichzeitig feminin fühlt, avantgardistisch und provokativ.

Ende des Monats wird Nensi Dojaka ihre vierte Laufsteg-Kollektion bei der London Fashion Week präsentieren. Was können wir erwarten? Vermutlich das, was auch die LVMH-Jury betrachten durfte und letztlich ausschlaggebend für Dojakas Gewinn war: Hohe Qualität, ihr unverwechselbarer, instinktiver Blick für Details. Kleidung für Frauen designt von einer Frau, die genau spürt, wie sie Lagen und Bänder um den weiblichen Körper drapieren muss, damit sie im vollkommenen Gleichgewicht stehen.