Graphic Novel über Anorexie

Eine Krankheit, die alles auffrisst

Hanah Zacher erzählt in ihrer Graphic Novel "Motten im Kopf" von einer jungen Frau mit Anorexie. Sie zeigt eindrücklich, wie die Krankheit die Selbstwahrnehmung und das Umfeld der Betroffenen zerstört

Linn hat Motten im Kopf. Sie krabbeln, tummeln sich, flattern auf ein bestimmtes Thema zu: Essen. Beziehungsweise: Nicht essen. Davon und vom ständigen Blick auf die Waage verspricht sich Linn Kontrolle. Nicht nur über ihr Gewicht oder ihre Außenwirkung, sondern über ihr ganzes Selbst. Doch bald hat nicht mehr sie selbst die Kontrolle, sondern ihre Erkrankung: Anorexie. Betroffene leiden unter einer Art Schlankheitswahn, der oft mit einer verzerrten Selbstwahrnehmung einhergeht. Im schlimmsten Fall wird der Gewichtsverlust der Betroffenen so stark, dass es für sie lebensgefährlich wird, weil der Körper nicht mehr ausreichend mit Nährstoffen versorgt wird. 

Wie sich die Essstörung entwickeln kann, sich leise anschleicht und irgendwann scheinbar alles bestimmt, zeigt Hanah Zacher in der Graphic Novel "Motten im Kopf". Inspiriert dazu haben Zacher, die in Zürich Psychologie und Kunstgeschichte studiert und nun ihre Expertise mit künstlerischem Ausdruck verbindet, einige Anorexie-Erkrankungen in ihrem Umfeld. Es sei ihr wichtig, das Verständnis für die Krankheit zu fördern – von der neben den primär Betroffenen auch das Umfeld betroffen sei. "Für Außenstehende ist es oft schwer nachvollziehbar, was in einer erkrankten Person vorgeht. Darum wollte ich den Fokus auf die Gedanken- und Gefühlswelt legen – also auf das Innenleben, das von außen meist verborgen bleibt", so Hanah Zacher. 

Das Bild, das sie dafür wählt, sind die Motten, die ihre Protagonistin Linn in den schlichten Schwarz-Weiß-Zeichnungen umschwärmen. "Sie sind immer präsent, bedrängend, nie ganz fassbar, und doch bestimmen sie Denken und Fühlen", sagt Zacher. "Wichtig war mir, dass die Krankheit als Fremdkörper dargestellt wird, nicht als Teil der Persönlichkeit. Die Protagonistin kämpft nicht gegen sich selbst, sondern gegen das, was sich in ihr eingenistet hat", fährt sie fort. 

Krankheit, keine Diät 

Zu Beginn der Erzählung sind es Käfer, die Linn befallen und ihr das Gefühl geben, sie sei nicht genug: langweilig, anstrengend, nervig. Während sie zunächst versucht, ihnen mit besseren Leistungen in der Schule etwas entgegenzusetzen, übernimmt irgendwann der Gedanke, weniger zu essen. "Wenn ich besser aussehen würde, dann wäre vieles einfacher", denkt sie. Und: "Wenn ich meine Makel beseitige, dann bin ich vielleicht schon ein wenig interessanter." Maden verpuppen sich in Kokons, wachsen an zu Motten. Was mit Diäten beginnt, steigert sich zum Zwang, zur Krankheit. 

Jährlich werden in Deutschland circa 10.000 Menschen mit Anorexie diagnostiziert, junge Frauen sind die am häufigsten betroffene Gruppe. Linn aus dem Comic ist ein ganz normales Mädchen. So normal, so sehr Schablone, dass sie jede sein könnte. Zacher konzipiert sie als Beispiel, im Fokus steht nicht die Person selbst, sondern die Krankheit. 

Weder über ihr Umfeld noch über ihre Vorlieben, ihre Stärken oder Lebensträume erfährt die Leserin etwas. So soll die Protagonistin laut Zacher Raum zur Identifikation bieten. Doch die Entscheidung, keinen individuellen Charakter herauszuarbeiten, hat einen weiteren psychologischen Grund. Sie habe auch darstellen wollen, wie sehr die Gedankenwelt einer Essstörung die Wahrnehmung einschränken kann. "Wenn man mitten in der Krankheit steckt, bleibt oft kein Platz mehr für das Umfeld – die Krankheit drängt sich in den Vordergrund, übernimmt fast alles."

Statt Mahlzeiten nur Gewissensbisse

Die Gedanken der Protagonistin reiht Zacher assoziativ aneinander. Sie helfen, nachzuvollziehen, welche Denkmuster Teil einer Essstörung sind. Etwa, dass die Protagonistin die Gewissensbisse nach dem Essen als schlimmer wahrnimmt als den Hunger. Zugleich redet sie sich ein, dass doch alles normal sei: "Ich habe kein Problem. Ich bin die Letzte, die ein Problem haben könnte." 

Eine Bestätigung dafür ist das Lob, das sie für ihre neue, dünnere Figur bekommt. Bald will sie mehr Reaktionen, mehr Anerkennung. Die Lösung: noch weniger Essen. Doch je stärker sie abnimmt, desto mehr kippen die Kommentare von Komplimenten in Sorge um. Irgendwann wird klar: Das hier ist keine Abnehm-Challenge mehr, keine Phase, das ist eine Krankheit. 

Der Comic endet nicht mit dem leichten Happy End, die Erkrankung hat keine Klimax, nach der der Spannungsbogen wieder fällt und sich in Genesung auflöst. Zacher erzählt keine Geschichte, die zeigt: So geht es in die Essstörung rein, und so dann auch wieder raus. 

"Viele Menschen unterschätzen die Tiefe der Erkrankung"

Stattdessen bleibt am Ende offen, wie es mit Linn weitergeht. Ob sie einer Therapie zustimmt, in eine Klinik geht, wie ihre Eltern es vorschlagen. Das macht "Motten im Kopf" bedrückend – und zugleich so realistisch: Eine Studie, die von Forschenden am Kings College in London durchgeführt wurde, zeigt, dass im Schnitt vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Behandlung von Anorexie 2,5 Jahre vergehen. Zudem ist keine psychische Erkrankung so tödlich wie Magersucht. 20 Prozent der Erkrankten sterben an ihren Folgen. 

"Viele Menschen unterschätzen die Tiefe der Erkrankung", sagt Hanah Zacher. Ergänzend zu der Graphic Novel enthält "Motten im Kopf" psychologisches Begleitmaterial, verfasst vom Herausgeber des Buchs Guy Bodenmann, Professor für klinische Psychologie mit dem Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche an der Universität Zürich. Darin werden Entstehung und Symptome einer Anorexie psychologisch einfach erklärt. Angefügt sind auch Arbeitsblätter, die therapeutische Übungen anbieten, etwa das Aufgliedern von Gedankenketten, Übungen zur Selbstwert-Regulation oder angeleitete Selbstbeobachtungen.

In der Kombination aus nahbarer Geschichte und psychologischem Material sieht Zacher eine besondere Chance, junge Menschen, an die das Buch gerichtet ist, zu erreichen. "In der Verbindung von Kunst und Psychologie sehe ich ein großes Potenzial für Aufklärung, Empathie und Dialog", sagt Hanah Zacher. Obwohl auch die Geschichte um Linn eher abstrakt bleibt und etwas Lehrbuchhaftes hat, so geht die Mischung besonders durch die klug gesetzte und stringent durchgezogene Motten-Metapher auf.