Musikvideos als Kunstform

Die besten ihrer Art

Früher regierten sie MTV, heute horten sie Klicks auf YouTube: Die Völklinger Hütte im Saarland zeigt eine Ausstellung über Musikvideos. Wir stellen einige vor, die schon legendär sind - und einige, die es noch werden sollten

Irgendwann einmal wurden ganze Fernsehsender dafür geschaffen. MTV nannte sich das zum Beispiel, später auch noch Viva, vielleicht erinnert sich ja noch jemand. 24/7 liefen da die Clips, ausschließlich, ununterbrochen. Denn die Musikindustrie war auf den Trichter gekommen, dass das Bewegtbild ganz vorzüglich das Wesentliche ergänzen, betonen, tragen, bereichern und vor allem bewerben kann.

Also drehten Musikerinnen und Musiker Videos. Natürlich war da viel Quark dabei. Aber es ging eben auch geschichtsträchtig kreativ (Peter Gabriel, A-ha), performativ (Madonna, Britney Spears), erzählend (Guns'n'Roses, Radiohead), verstörend (Tool, Aphex Twin), furchtbar teuer (Michael Jackson, 30 Seconds to Mars) oder auch einfach nackt (dazu fällt Ihnen bestimmt ein Beispiel ein).

Richtig gut wurden Musikvideos, wenn Bands, Regisseure und Choreografinnen die Gelegenheit und Plattform ergriffen, um sich auszudrücken. Dann entstanden aufwändige Shows, Musicals, und Kurzfilme, provokant, politisch, grenzüberschreitend. Und die Kids saßen mit der aufnahmebereiten VHS-Kassette vor der Glotze, immer auf der Suche und immer bereit, den heißen Scheiß mitzuschneiden, den die Moderatoren Charlotte Roche oder Markus Kavka empfahlen.

Mit der Massenware Musik gingen die Kunstwerke unter den Musikvideos schließlich im redundanten Einheitsbrei unter. MTV starb (oder dümpelt gerade irgendwo zombiehaft im Free-TV herum), und die Clips zogen auf YouTube und die sozialen Medien um, wo sie noch schneller und noch billiger produziert sein durften, aber auch eine riesige Reichweite bekamen. Trotz vieler eher unkreativer Videos gibt es immer wieder grandiose Ausnahmen, die Aufmerksamkeit verdienen. Darum hat sich die Völklinger Hütte des Themas angenommen und zeigt bis zum 16. Oktober "The World of Music Video". Hier stellen wir ein paar Favoriten aus der Schau vor.
 

12 legendäre Musikvideos, die Sie wahrscheinlich schon kennen (zum Anschauen Inhalte aktivieren):
 

Beastie Boys "Sabotage", 1994

Sie waren die coolsten, erfolgreichsten und weißesten Hip-Hopper ihrer Zeit, "Sabotage" ist bis heute der berühmteste Track des schmalen Rapcore-Genres – und das zugehörige Video war das witzigste, was MTV damals zu bieten hatte. Die Hommage auf die Polizeiserien der Siebziger lief in Dauerschleife – und nervt immer noch nicht. Ruhe in Frieden, MCA!



Björk "All Is Full of Love", 1999

Zu Recht preisgekrönt und immer wieder zitiert wurde Björks ebenso romantisches wie eiskalt steriles Video zu "All Is Full of Love". Liebe ist überall, sogar für die Roboter mit Björks Gesichtszügen, die in der futuristischen Werkstatt von Roboterarmen zusammengebaut werden, bevor sie endlich miteinander rummachen dürfen.



The Carters "Apeshit", 2018

Wie aufwendig produziert, großartig und politisch Musikvideos heute sein können, zeigte das Ehepaar Carter 2018. Beyoncé und Jay-Z krönen sich darin als Queen und King der Musikindustrie. Natürlich im Louvre, mit allerlei Kolonialkunst im Hintergrund, eine lässige Aneignung des weißen Kunsttempels. Nach ihren Soloalben, in denen beide eheliche Fehltritte abhandelten, unterstreichen sie ihren irrwitzigen Erfolg mit einer wiederkehrenden Hookline: "Can't believe we made it".

The Carters "Apeshit", 2018

The Carters "Apeshit", 2018


Childish Gambino "This is America", 2018

Was in Sachen Waffengesetze in den USA alles haarsträubend schief läuft, braucht man wohl nicht weiter zu erklären. Schauspieler und Sänger Donald Glover aka Childish Gambino zeigt es in seinem One-Shot-Video zu "This Is America", das rasend schnell zum Internetphänomen wurde. Childish tanzt, scherzt, ist furchtbar sexy – und mäht zwischendurch Geiseln oder gleich seinen eigenen Gospelchor über den Haufen. Die Waffen werden dabei sorgsam verwahrt, die Leichen gleichgültig weggekarrt. Eine visuelle Metapher, schmerzhaft und gut.


 



Fatboy Slim "Weapon of Choice", 2001

Einen Oscar hatte Christopher Walken ja 1979 schon gewonnen. Den endgültigen Kultstatus ertanzte, ersteppte und erflog sich der Schauspieler dann in Fatboy Slims Video zu "Weapon of Choice", und zwar im Marriott-Hotel in Los Angeles. Für den Papst des Big Beats übernahm Spike Jonze die Regie. Der hatte schon für die Beastie Boys (und später noch für REM, Björk, Daft Punk, Chemical Brothers und Arcade Fire) Musikgeschichte geschrieben.



Justice "Stress", 2008

Die Kids aus den Banlieues der Stadt ziehen in den Krieg. Mit dem Justice-Kreuz auf ihren Bomberjacken terrorisieren sie Paris, ob Fußgänger oder Ordnungshüter, sie randalieren, klauen und prügeln, zuletzt bleibt selbst der Kameramensch nicht verschont. "Stress" ist heftig, wurde aber nie zensiert. Denn das Elektro-Duo verweigerte die TV-Übertragung von vornherein. Es wollte niemanden ungewollt mit der Gewalt konfrontieren. Stattdessen veröffentlichten Justice ihr Video auf der Website von Kanye West.


 




The Knife "Pass This On", 2003

Sexuelle Ambiguität auf der Jahreshauptversammlung des Schützenvereins. Geht das gut? Wir zittern ein bisschen und befürchten Schlimmes, wenn bei "Pass This On" von den schwedischen Pop-Geschwistern von The Knife ein Hool (Olof Dreijer, der eine von der Band) auf die Dragqueen zugeht. Doch die Eskalation bleibt aus. Die Queen zieht ihren Auftritt vor den alten und jungen, dicken und dünnen, disabled und abled Personen durch. Alle tanzen – außer eine, die starrt (Karin Dreijer, die andere von der Band).



Massive Attack "Voodoo In My Blood", 2016

Mal ist es das Video aus dem Mutterleib ("Teardrop"), mal die sinnlose Verfolgungsjagd ("Angel"). Massive Attack sind bekannt für ihre Wahnsinnsvideos. Für "Voodoo In My Blood" haben die Triphopper einen Horrortanz inszeniert. Protagonistin ist die bekannte Schauspielerin Rosamund Pike ("Gone Girl"), die sich von einer metallenen Sci-Fi-Kugel erst ins Auge pieken und dann durch einen U-Bahn-Schacht steuern lässt.

 



Nine Inch Nails "Closer", 1994

Fast 20 Jahre später schockt "Closer" vielleicht nicht mehr ganz so doll. Aber damals sorgte Trent Renzor mit seinem Projekt Nine Inch Nails für der Skandalvideo schlechthin. Der Clip landete sofort auf den Index und zeigte uns, dass man genau damit die Popularität anschiebt. Das ganze Album "The Downward Spiral" über Depressionen, Selbstzerstörung und Selbstmordgedanken gibt einen düsteren Einblick in die Seele Renzors.

 

 


Pearl Jam "Do the Evolution", 1998

Ende der 1990er gaben Pearl Jam schon einmal einen kleinen Einblick, was noch alles auf dem Weg zum Weltuntergang auf uns zukommen wird. "Do the Evolution" beschreibt die menschliche Entwicklung der Zerstörung in vier kurzweiligen Minuten. Der Zeichentrick-Clip zeigt die Abgründe der Menschheit und ihrer Geschichte, von der ersten leisen Gewalt eines Primaten über die Weltkriege, den Horror des Naziterrors, den Rüstungswahn, die Umweltverbrechen und schließlich die atomare Apokalypse.

 



Prodigy "Smack My Bitch Up", 1997

"Smack My Bitch Up" ist erst ab 18, lief immer nur nach Mitternacht auf MTV und ist auch heute nicht in voller Länge auf YouTube zu finden. Auf Vimeo geht’s. Was es zu sehen gibt? Ein nicht allzu jugendfreies Video aus der Ego-Perspektive, ein bisschen wie in einem Videospiel. Es wird gesoffen, gerotzt, gevögelt und gekotzt. Nicht ganz so leicht zu ertragen, aber der plottwist am Ende macht den Clip zur großen Kunst.
 



Die Antwoord "I Fink U Freeky", 2012

Fiese Frisen, bekloppte Tattoos, harte Technobeats, dazu ein Kauderwelsch aus Englisch und Afrikaans. Fertig war die Popsensation der noch frischen 2010er-Jahre. Irgendwie merkwürdig hot, vor allem aber herrlich abstoßend mischen Die Antwoord seit 2010 die Musikwelt mit ihrem White-Trash-Geknüppel auf. Zu der Produktion des Videos für "I Fink You Freeky" ließ sich Fotograf Roger Ballen nicht lange bitten. Er aus Johannisburg, Die Antwoord aus Kapstadt, beide mit Vorliebe für brutale Bilder, das lag logistisch wie inhaltlich auf der Hand.

 

12 bald legendäre Musikvideos, die viel mehr Menschen kennen sollten:

 

The Blaze "Territory", 2017

Das französische Musik-Duo The Blaze treibt uns mit "Territory" die Tränen in die Augen. Es zeigt die Heimkehr eines Migranten aus Frankreich zurück nach Algerien. Es zeigt die Sehnsucht nach Heimat, Zugehörigkeit, Familie und Freunden. Der Protagonist wird mit offenen Armen empfangen, doch der junge Mann hadert: Mit seiner Vergangenheit und der toxischen Männlichkeit an sich.



Gloria "PTS", 2020

Auch Krisztina Dányi hatte es nicht so ganz leicht. Die vorher als Morningdeer bekannte Budapester Künstlerin schuf ihr alter Ego Gloria während der Covid-Sinnkrise. In "PTS" spiegelt sie uns unser Social-Media-Problem, indem sie Höllenmeldungen auf uns einprasseln lässt, die uns das Leben versauen, bis Gloria herself mit einem einzigen Post die Lösung aller Probleme aufzeigt und die Welt rettet. Putin, Trump, Kim Jong-Un, Merkel, Biden und auch Leonardo Di Caprio gefällt das.



Oren Lavie "Her Morning Elegance", 2009

Sonnenstrahlen treten durchs Fenster, eine Frau räkelt sich im Bett. Kaffeewerbung? Zum Glück wird es besser. In seinem Stop-Motion-Video zu "Her Morning Elegance" lässt Oren Lavie seine Schlummernde durch ihre Traumwelt fliegen. Kissenwolken ziehen vorbei, Instrumente, auch Lavie selbst als ihr liebender Begleiter. Sehr herziges Video, dazu auch noch ein guter Wake-up-Song.



Leningrad "Kolschik", 2017

Der Zirkus steht in Flammen, und Georg Kreisler hat damit nichts zu schaffen. Aber wer dann? Schwer zu sagen, denn Leningrads Video zu "Kolschik" läuft komplett rückwärts. Es fließt das Blut, es rinnt das Hirn, es splattern die zerfetzten Körperteile, Köpfe rollen, Leichen brennen. Zur gruseligen Vorstellung dudelt ein poppiger Quietschesong, wie er unpassender nicht sein könnte. Das merkt auch, wer nicht der russischen Sprache mächtig ist. Rein textlich geht es nicht um den Horror im Zirkuszelt, sondern um den richtigen Lidstrich beim Schminken, oder so. Sei's drum, selbst Regisseur Christopher Nolan wird’s egal gewesen sein, der sich sein letztes Kinospektakel garantiert von "Ленинград" abgeguckt hat.

 


Make the Girl Dance "Baby Baby Baby", 2009

Für den kleinen Skandal casteten Make the Girl Dance ihre Protagonistinnen per Facebook-Aufruf. Am Ende setzten sich Mathilde, Sarah und Marine durch, die nur mit einem Kinderkofferradio bekleidet die sexuelle Emanzipation mit gängiger Werbelogik durch die zur Fußgängerzone beruhigte Straße tragen durften. Aus 10.000 Followerinnen wurden auf einen Schlag zehn Millionen. Wer hätte das erwartet. Jeder wahrscheinlich.

 



Mashrou' Leila – Radio Romance, 2019

Zwei Frauen tanzen durch Beirut, irgendwo im libanesischen Nichts zwischen Küste und Stadt. Die ganze Liebesgeschichte ist im Comicstil animiert, so wie in den Filmen "Waking Life", "Scanner Darkly" oder "The Congress". Die zärtliche Choreo der Liebenden in einer kaputten Stadt berührt. Am Ende geht der verbotene Kuss in einer Staubwolke auf.



M.I.A. - Born free, 2010

Mit schwerer Kost provoziert Mathangi Arulpragasam in "Born Free". Der Song strengt an, das Video umso mehr: Ein SWAT-Team prügelt sich durch eine Siedlung. Es durchbricht, durchwühlt, durchsucht und zerrt ein paar Jungs aus deren Alltag, wahllos scheinbar. Dann, als die Opfer zusammengepfercht im Gefängnisbus hocken, wird die Gemeinsamkeit klar: Alle Abgeführten haben rote Haare. Die sind gerade gut genug, um in irgendeiner Wüste über ein Minenfeld gejagt zu werden. Die Darstellung der Gewalt ist explizit, die Message über willkürliche Ausgrenzung und Gewalt auch. Wenn M.I.A. nachhaltig verstören wollte, ist ihr das auf künstlerischste Art gelungen.

 


Röyksopp – Remind Me, 2002

Die Musikvideos des norwegischen Elektronica-Duos Röyksopp sind eigentlich alle großartig. Eine interne Abstimmung des Autors hat dann ergeben, dass "Remind Me" das beste ist. Schließlich wird uns hier kurz und bündig erklärt, wie die ganze Welt funktioniert. Dachte der Autor jedenfalls, als er damals total high auf der Couch versackte und zum ersten Mal diesen Clip sah.

 

Sam Spiegel & Ape Drums – Mutant Brain, 2016

Erst Christopher Walken für Fatboy Slim, dann Rosamund Pike für Massive Attack. Jetzt ist Margaret Qualley dran. Die Tochter von Andie MacDowell rastet in "Mutant Brain" in einer Art Mix aus modernem Exorzismus und überlanger Parfümwerbung in einem Festsaal aus. Gute Moves, gute Abendgarderobe.

 

Unkle feat. Thom Yorke – Rabbit in Your Headlights, 1998

Werbespot- und Videoclip-Produzent Jonathan Glazer war irgendwie noch nicht zufrieden, als er ein Jahr zuvor das auch schon großartige Video zu Radioheads "Karma Police"abgedreht hatte. Er wollte irgendetwas noch dramatischeres, noch hypnotischeres schaffen, sagte er. Und das hat er dann gemacht. Für die Trip Hopper von Unkle lässt Glazer den französischen Schauspieler Denis Lavant von ein paar Autos über den Haufen fahren. Lavant steht auf. Immer wieder. Bis er die Faxen dicke hat. Man munkelt, dass Jonathan Glazer Radiohead-Sänger Thom Yorke angedroht hat, ihn ebenfalls mit seiner Karre umzunieten, wenn der sich weigern sollte, den Track zu singen.


Baloji – Peau de Chagrin / Bleu de nuit, 2018

Fast zehn Minuten Farbrausch: Im Video zu " Peau de Chagrin / Bleu de nuit" unterstreicht der belgisch-kongolesische Rapper Baloji seinen Track über Mensch und Natur, Zärtlichkeit und Intimität mit bunter Bildgewalt. Baloji selbst sagt, er sei Synästhetiker. Er nehme durch Klänge auch Farben wahr, und andersherum. Mitternachtsblau ist offensichtlich sein Lieblingston.

 



Weval – Someday, 2019

Zum Schluss noch ein richtiges Brett in Sachen Filmmontage. Der Ire Páraic McGloughlin war schon vorher für derartige Kunstwerke bekannt, aber für Weval übertrifft er seine Arbeit noch einmal selbst. McGloughlin klebt Naturphänomene, Bauwerke, Makroaufnahmen und Sattelitenbilder, Kirchenfenster und Containerwände zu Mosaiken zusammen und verwandelt sie in einen zeitgerafften Bildfluss, die den vermeintlichen Standbildern ein trippiges Eigenleben einhauchen. Abgefahren.