Nachruf auf Iepe Rubingh

Dein Schachboxen soll olympisch werden!

Künstler und Schachboxer Iepe Rubingh (links) ist mit 45 Jahren gestorben
Foto: Jan-Philipp Sexauer

Künstler und Schachboxer Iepe Rubingh (links) ist mit 45 Jahren gestorben

Der Performance-Künstler und Erfinder des Schachboxens Iepe Rubingh ist mit nur 45 Jahren gestorben. In Berlin hat er mit seiner neuen Sportart eine geniale soziale Plastik erschaffen. Ein Nachruf von Galerist Jan-Philipp Sexauer 

Es gibt zwei Arten von Nachrufen. Die einen schreibt man zu Lebzeiten einer Person, die anderen, wenn man noch gar nicht begriffen hat, was eigentlich passiert ist. Um einen solchen handelt es sich hier: Iepe Rubingh ist tot.

Iepe Rubingh bezeichnete sich als Künstler, Unternehmer, Innovator und Storyteller. Zwei Zuschreibungen müssen wir hinzufügen: Schachspieler und Boxer, oder präziser: Schachboxer. Für alle unerwartet starb Iepe am 8. Mai in Berlin. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Mit nur 45 Jahren. Als ich Iepe persönlich kennen lernte, hatte er das Schachboxen bereits erfunden.

Iepe kam 1997 nach Berlin. Bereits zwei Jahre später griff er künstlerisch in den öffentlichen Raum seiner neuen Heimatstadt ein. Mit hunderten von Metern rot-weißem Klebeband blockierten er und sein Team den Hackeschen Markt und brachten den Verkehr zum Erliegen. Neben dem ästhetischen Erlebnis war dies auch ein Protest gegen den Verlust von Freiräumen, vor über 20 Jahren. "Guerilla Interventions" nannte er solche Eingriffe.

Beuys, Duchamp und Warhol als Impulsgeber

Iepe war Aktionskünstler. Aber von Anfang an begriff er sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Motivator und Unternehmer. Mit seiner Kunst brachte er Menschen zusammen. Immer ging es ihm um Kunst, Unterhaltung und Soziales gleichermaßen. Er liebte das Entertainment und Clowneske. Für ihn war jeder Mensch ein potentieller Künstler – Beuys, Warhol und Duchamp wichtige Impulsgeber. Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff, der Unternehmer Warhol mit seiner Fabrik und Duchamp als Schachspieler.

Im Jahr 2003 fand der erste Schachboxkampf in Berlin statt. Iepe gegen einen befreundeten Anwalt aus den Niederlanden. Wann genau Iepe die Idee hatte, weiß ich nicht. Die erste Anregung fand er jedenfalls in dem 1992 erschienen Science-Fiction-Comic "Äquatorkälte" von Enki Bilal, der dort von einer Weltmeisterschaft im "Schachboxen" erzählt. In der Trilogie, deren dritter Teil "Äquatorkälte" ist, spielen übrigens auch ein Virus, Quarantäne und Berlin eine Rolle. Iepe war begeistert von der Idee und begann, eine Schachbox-Performance zu planen. Er entwickelte ein Regelwerk und aus dem als Kunstperformance geplanten Schachboxen wurde nach und nach ein neuer Wettkampfsport. Im Wechsel von dreiminütigen Runden wird Schach gespielt und geboxt. Die genauen Regeln sind hier nicht wichtig. Aber kurz möchte ich erzählen, was diese soziale Plastik von Iepe so genial macht.   

Schachboxen kombiniert eines der ältesten Denkspiele mit einer der ältesten Kampfsportarten der Menschheit. Beide sind in ihren frühen Ausprägungen bereits in der Antike bekannt. Beim Faustkampf versucht man, den Gegner kampfunfähig zu schlagen, beim Schachspiel, den gegnerischen König symbolisch zu töten (matt, arab. tot). In beiden Sportarten geht es ums Ganze. Eine formale Gemeinsamkeit finden sie in der quadratischen Form ihrer Kampfplätze. Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau. In einem oder auf einem Quadrat. Es ließen sich weitere Gemeinsamkeiten finden. 

Die Attraktivität der Grenzüberschreitung

Schachboxen ist spannend und verbindet die Höhepunkte des Faustkampfs mit wortwörtlich atemberaubenden Schachpartien. Warum ist das so? Jeder Boxliebhaber kennt Kämpfe, die langweilig sind, weil die Kontrahenten klammern. Jeder Schachspieler kennt Partien, die langweilig werden, nachdem sich ein Spieler einen Vorteil erkämpft hat. Beim Schachboxen ist das anders: Der schwächere Schachspieler muss seinen Gegner im Ring k. o. schlagen, um nicht auf dem Brett matt gesetzt zu werden; umgekehrt muss der schwächere Boxer seinen Gegner auf dem Brett schlagen, um nicht im Ring k. o. zu gehen. Beide Kämpfer suchen den Sieg. 

Ein weiterer Umstand, der Schachboxen so attraktiv macht: die Grenzüberschreitung. Jeder, der einmal geboxt hat, weiß, wie anstrengend das ist, und wie lang drei Minuten sein können. Nach mehreren Boxrunden aber noch Schach zu spielen, und sich unter Zeitdruck zu konzentrieren, wenn der Körper bereits um Sauerstoff kämpft, ist fast unmenschlich. So unterlaufen auch guten Spielern Fehler, die ihnen sonst nie passieren würden. Ich erinnere mich an eine Partie – ich glaube sogar, Iepes letzten Kampf in Berlin – bei der einer seine Dame verlor. Danach ist ein Spiel eigentlich entschieden. Hier aber verlor der um Luft ringende Kontrahent wenige Züge später ebenfalls seine Dame und das Spiel war wieder offen. Das Publikum verfolgte dies auf einer digitalen Anzeigetafel und hielt abwechselnd den Atem an und schrie. Es schrie. Bei einem Schachspiel.

Diese Geschichten werden bleiben

Iepe Rubingh hat das Schachboxen als soziale Plastik in die Welt gesetzt und diese Plastik, dieser Sport, dieses Unternehmen und diese Geschichte werden bleiben. Wir haben einem Künstler eine neue Sportart zu verdanken. Das dürfte einzigartig sein. Iepe gründete die World Chess Boxing Organisation und machte Schachboxen international bekannt. Heute gibt es Verbände unter anderem in den USA, Russland, China, Indien, Italien und dem Iran.

Im Jahr 2011, Schachboxen war bereits bekannt, verwandelte Iepe erneut den öffentlichen Raum. In seiner Aktion "Painting Reality" auf dem Rosenthaler Platz schütteten Fahrradfahrer – gleichzeitig und unvermittelt – 500 Liter Farbe auf die Straße. Die Autos mussten durch die Farbe fahren und bemalten mit ihren Reifen die Fahrbahn. Man dachte an Jackson Pollock. Auch diese – natürlich illegale – Aktion war perfekt geplant und mit Freunden realisiert. Geplant und durchgeführt wie von einem professionellen Unternehmen. Iepe, l’entrepreneur.

Iepe Rubingh war einer von jenen, die das Berlin der späten Neunziger und das Berlin der Post-Jahrtausendwende zu dem Ort gemacht haben, für den es bis vor kurzem stand: ein Ort der Freiheit, der Kunst und der Möglichkeiten. Iepe blockierte mit künstlerischen Mitteln den Verkehr und zeigte damit schon vor 20 Jahren, wie man mit dem nötigen Sicherheitsabstand protestiert. Immer wieder fand er neue Formen; für die Kunst, den Protest, den Sport oder ein neues Unternehmen.

Wir wollten Schach "sexy" machen

Im Jahr 2008 gründete ich die "Night of the Pawn", ein Künstler-Schachturnier im Nachtleben und ein Gegenpart zum Hochleistungssport Schachboxen. Wir spielten in illegalen Clubs bei Musik, rauchten und tranken. Manchmal kam Iepe nach dem Training vorbei, unser "Kollege" vom Schachboxen. Beide wollten wir das Image des Schachspiels als ernstes Denkspiel dekonstruieren und Schach "sexy" machen, jeder auf seine Weise. Im Jahr 2013 traten wir einmal ganz offiziell gegeneinander an: die Schachboxer gegen die Nachtclub-Spieler, in der temporären Kunsthalle Platoon in der Schönhauser Allee. An einem langen Tisch in der längst verschwundenen Containerhalle und in Anlehnung an die Felder des Schachbretts: acht gegen acht. Auch das eine soziale Plastik.   

Die Stadt Berlin, die Kunst, der Schach- und der Boxsport haben Iepe Rubingh einiges zu verdanken. Wir werden sein verschmitztes Lächeln nicht vergessen. Einer seiner Träume war, sein Schachboxen olympisch zu machen. Ich hoffe, das Unternehmen wird weitergeführt, seine Plastik modelliert, seine Story erzählt. Jeder kann mitmachen! Und so rufen wir ihm nach: Dein Schachboxen soll olympisch werden! Danke, Iepe.