Zum Tod von Lawrence Weiner

Am Anfang war das Wort

Der US-Künstler Lawrence Weiner hat aus Buchstaben Skulpturen gebaut und mit seinen Schriftzügen nicht nur Orte, sondern auch das Kunstverständnis seiner Zeitgenossen verändert. Nun ist er im Alter von 79 Jahren gestorben 

Der öffentliche Raum ist geschwätzig. Wenn man sich nicht gerade in entlegenen Wäldern, auf 8000er-Gipfeln oder auf hoher See befindet, werden wir fast ununterbrochen mit Botschaften bombardiert. Die meisten sind ziemlich eindeutig: Hier geht's lang, kaufen Sie dies, kommen Sie hier rein, tun Sie dies, oder das bitte nicht. Aber dann gibt es auch die ortsspezifischen Slogans von Lawrence Weiner, die einem oft unerwartet begegnen: "Vertrocknete Erde & Gestreute Asche Oder Vertrocknete Erde & Vergrabenes Gold Oder" konnte man im Sommer dieses Jahres durch die Fenster der Berliner Galerie Thomas Schulte an den Wänden lesen. "The Middle Of The Middle Of The Middle Of" steht seit der Documenta 13 von 2012 an der Fassade des ehemaligen Hugenottenhauses in Kassel

Der Konzeptkünstler Lawrence Weiner benutzte alles als Leinwand, was von möglichst vielen Menschen gesehen werden konnte: Hauswände, Fensterscheiben, sogar Docks und Gullydeckel wurden mit seinen Wortschöpfungen in bunten, oft dunkel umrandeten Buchstaben versehen. Weiner schaffte es, eine unverwechselbare visuelle Identität zu entwickeln, die in der Kunst fast eine Marke wurde. Auch er selbst war mit Rauschebart, sanfter Bariton-Stimme und meist mit Zigarette in der Hand eine prägnante und verehrte Figur im Kunstbetrieb.

Seine Botschaften blieben immer ein wenig verrätselt und offen für verschiedene Deutungen. Sie waren eine Auflehnung gegen die Vereindeutigung von Räumen. Am Mittwoch ist der Pionier der US-Konzeptkunst im Alter von 79 Jahren gestorben. 

Auch eine Leerstelle kann Skulptur sein

Weiner wurde 1942 im New Yorker Stadtteil Bronx als Sohn eines Süßwarenhändlers geboren und arbeitete vor seiner Künstlerkarriere in mehreren sogenannten "Blue Collar Jobs", beispielsweise beim Entladen von Zugwaggons und auf einem Öltanker. Ohne klassische Kunst-Ausbildung (und ohne Erlaubnis) verwirklichte er seine erste Performance "Cratering Pieces" mit 19 Jahren: In einem Park in Kalifornien sprengte er vier Krater in den Boden, was ihm schlagartig viel Aufmerksamkeit in der Kunstwelt einbrachte. Skulpturen konnten für Weiner etwas sein, das nicht da ist – mit dieser Idee gehörte er zu den Vordenkern der US-amerikanischen Konzeptkunst, die sich in den 60er-Jahren vom Objekt zum Gedanken als zu formendes Material vortastete. 

1968 veröffentlichte Wiener seine berühmte "Absichtserklärung": "Der Künstler kann das Werk herstellen. (The artist may construct the piece.) Das Werk kann angefertigt werden. (The piece may be fabricated.) Das Werk braucht nicht ausgeführt zu werden. (The piece need not be built.) Jede Möglichkeit ist gleichwertig und entspricht der Absicht des Künstlers, die Entscheidung über die Ausführung liegt beim Empfänger zum Zeitpunkt des Empfangs. (Each being equal and consistent with the intent of the artist the decision as to condition rests with the receiver upon the occasion of receivership.)"

Sprache als Schlüssel zu imaginären Welten

Damit etablierte Weiner die Möglichkeit, jede Idee des Künstlers unabhängig von der Ausführung zum Kunstwerk zu erklären, zum Zeitpunkt seiner Formulierung war dies ein so revolutionärer wie provokanter Gedanke. Gleichzeitig gibt Weiner die Macht der Schöpfung auch an die Betrachterinnen und Betrachter eines Werkes ab. Kunst existiert, wenn sie rezipiert wird. Weiner stärkt also mit seiner Haltung sowohl das "Genie" des Künstlers, der alles zum Werk machen kann, demokratisiert das Werk jedoch gleichzeitig, weil es nur durch die Schauenden und Mitdenkenden existiert.

Sein Lieblingsmedium fand Lawrence Weiner schließlich im geschriebenen Wort, einer alltäglichen Erscheinungsform, die als ein Schlüssel zu imaginären Welten dienen kann. Seine poetischen Schriftzüge nehmen als zweidimensionale Skulpturen auf verschiedenen Oberflächen praktisch keinen Raum ein, können aber Orte markieren und transformieren. Wenn man es biblisch formulieren will: Am Anfang war das Wort, und das Wort ist in diesem Fall nicht bei Gott, sondern beim Künstler.

Eine Souveränitätsbehauptung im öffentlichen Raum

Wie einflussreich Weiner mit seinen in verschiedene Sprachen übersetzten Installationen war, zeigt sich auch an der Fülle an Textarbeiten, die sich in zeitgenössischen Ausstellungen finden. Worte werden heute wie selbstverständlich als Werke anerkannt. Weiners Slogans sind in ihrer inhaltlichen Offenheit nicht im klassischen Sinne politisch. Das Insistieren auf Buchstaben als skulpturales Material war jedoch eine Souveränitätsbehauptung im öffentlichen Raum, die auch mit Protestkultur zu tun hat und die Kunst nachhaltig prägte.

Weiner war mehrfacher Documenta-Teilnehmer und wurde unter anderem mit Retrospektiven im Whitney Museum in New York und in den Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen geehrt. 1995 bekam er den Wolfgang-Hahn-Preis des Museums Ludwig in Köln, 2017 wurde er mit dem renommierten israelischen Wolf-Preis ausgezeichnet. Den Oskar-Kokoschka-Preis, der ihm in diesem Jahr von der Universität für angewandte Kunst in Wien zugesprochen wurde, wollte er eigentlich persönlich entgegennehmen. Er wird im März 2022 nun posthum verliehen werden. 

Inzwischen schmücken sich zahlreiche internationale Kunstinstitutionen mit Weiner-Schriftzügen, und viele der eigentlich temporären Werke sind dauerhaft geworden. Es besteht also keine akute Gefahr, dass seine minimalistische Poesie so schnell in Vergessenheit gerät. Am Ende bleibt von einem großen Künstler: das Wort.