Nachruf auf Robert Frank

Solche Fotografien gibt es nicht mehr

Sein bahnbrechendes Werk "The Americans" zählt zu den ambitioniertesten Kunstprojekten des 20. Jahrhunderts: Robert Franks Fotografien vereinen auf perfekte Art alle Geschichten, die man über Amerika kennt, und alle, die man nicht kennt. Nun ist der Künstler im Alter von 94 Jahren gestorben 

Seiner Kamera entging nichts. In New Orleans fotografierte er einen Bus, aus dem ein Afroamerikaner angsterfüllt aus dem Fenster starrt. Eine weiße, gut gekleidete Dame wirft dem Fotografen aus dem Augenwinkel einen verbitterten Blick zu. Robert Frank besaß die Gabe, dem Betrachter mit einem einzigen Bild Vorgänge zu erklären, für die Worte allein manchmal nicht reichen.

Robert Frank wurde 1924 in Zürich geboren. Weil sein Vater Deutscher war, bekam er erst 1945 die Schweizer Staatsbürgerschaft zugesprochen. In Payerne studierte er Französisch, begann aber 1941 in Zürich eine klassische Ausbildung zum Fotografen. Sechs Jahre lang arbeitete er für verschiedene Fotografen in der Schweiz, entdeckte aber bald seine Leidenschaft für das Reisen. Zunächst in Europa, später in Nord- und Südamerika unterwegs, dokumentierte Frank für Magazine in den USA und Europa das Leben.

Die Eindrücke von den Zerstörungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren grundlegend für seine Fotografien, die immer schnappschussartiger, aber gleichzeitig narrativer wurden. Bei dem Züricher Michael Wolgensinger lernte Frank, mit Licht und Schatten umzugehen, ein Bild zu komponieren, ein Geschehen zu inszenieren.

Lebenswerk "The Americans"

Die ersten Jahre in den USA waren für Frank sinnbildend. Er begann mit der Planung eines Megaprojekts, das nicht weniger als einen Einblick in die Seele einer Nation geben wollte. Um es zu realisieren, bewarb er sich für das hochdotierte und prestigeträchtige Guggenheim-Stipendium. Franks Verleger in Paris, Robert Delpire, der den Bildband als erster herausbringen sollte, wusste gleich, "das ist jemand" – und er hat gute Ideen. 1955 wurde Robert Frank, dank der Unterstützung von Edward Steichen und Walker Evans, das Stipendium gewährt.

Diese Wesensstudie war sein Lebenswerk. Der Bildband "The Americans" ist ein Querschnitt durch alle Schichten des amerikanischen Volkes. 1956 und 1957 reiste Frank dafür quer durchs Land und machte Aufnahmen vom Big Apple, von den entlegenen Gegenden des Mittleren Westens, den Spielhöllen Nevadas oder vom Leben hinter den schillernden Leuchtreklamen Hollywoods. Ungeschminkt und ehrlich zeigt er wie der Amerikaner der 50er-Jahre lebte, was ihn bewegte, ihm wichtig war.

Mit einfachsten fotografischen Mitteln erzählt er etwa von einem Cowboy in New York, der vor dem Madison Square Garden darauf wartet, ein Rodeo zu reiten. Mit tief ins Gesicht gezogenem Hut zündet sich der Mann eine Zigarette an. Mit seinen Lederstiefeln, der engen Jeans und der großen Gürtelschnalle wirkt er deplatziert – eine Dame im Hintergrund beäugt ihn kritisch. In Hoboken, New Jersey, beobachtet Frank zwei Frauen während einer Parade am Fenster. Eine blickt verstohlen und im Schatten eines Rollos in die Kamera – das Gesicht der anderen wird von einer riesigen wehenden Flagge verdeckt. Die Bilder der Amerikaner vermitteln eine stete Entfremdung der Menschen zu ihrer Umwelt. Jack Kerouac schreibt im Vorwort des Bildbandes, Frank hätte mit seiner kleinen Kamera, die er immer in einer Hand gehalten habe, ein trauriges Gedicht über Amerika auf einem Film gebannt.

Geschichte des Davor und des Danach

"Solche Fotografien gibt es nicht mehr", schrieb Monopol-Redakteurin Silke Hohmann einmal, "und zwar nicht nur, weil es solche Zeiten nicht mehr gibt. Sie vereinen auf eine so perfekte Art Komposition, Zufall, Licht, Oberflächenbeschaffenheit, Reflexe in Augen, die unbedingt etwas wollen, Schattierungen, Fotomaterialität selbst, alle Geschichten, die man über Amerika kennt, und alle, die man nicht kennt. Am Tag der Todesnachricht von Marilyn Monroe weiß das Strandmädchen mit der Flagge vermutlich noch nichts davon, wie sehr diese tote Schauspielerin ihr noch in die Quere kommen wird, wenn es um Rollen und Körper geht. Diese Geschichte des Davor und des Danach erzählt Robert Frank in fast jedem seiner Bilder. Und zwar paradoxerweise einzig deshalb, weil er so radikal auf den gegenwärtigen Moment setzt, ihn verstanden hat, bevor diejenigen es merken, die im Bild sind."

Nach dem Erfolg der späten 50er-Jahre, begann Robert Frank Filme zu drehen. Sie erzählen von kruden Einzelgängern, Subkulturen, verkorksten Beziehungen, Musik, Religion oder auch von ökologischen Aktivisten. Sein Debüt von 1959, "Pull my daisy", basiert auf dem dritten Akt eines Bühnenstücks von Jack Kerouac, das dieser nie vollendete. Es handelt von einem malenden Eisenbahner, dessen Frau einen Priester zum Essen eingeladen hatte. Die lärmenden Freunde des verkannten Bohemiens, inspiriert von den Beatniks, stürmten die gediegene Party, es kommt zu einem tragikomischen Gemenge. Der Kurzfilm wurde bis 1968 als Meisterwerk der Improvisation gefeiert, bis Alfred Leslie, ebenfalls Regisseur, verriet, dass jede Sequenz und die Texte der Schauspieler sorgfältig geplant und geprobt wurden. Bis 2008 entstanden mehr als 20 Filme.

Viele Wahrheiten gefunden und festgehalten

Die Beat Generation hatte auf die Arbeit von Robert Frank großen Einfluss. Seine Bilder wirken rastlos, sind geprägt von losen Assoziationen, von langen Reisen. "You got eyes!" – "Du hast Augen", schreibt Kerouac am Ende seines Vorwortes. Mit dieses Augen hat Robert Frank, dessen Werk vielfach ausgezeichnet und in den renommiertesten Museen der Welt ausgestellt wurde, viele Wahrheiten gefunden und mit seiner Kamera festgehalten.

Seine Frau June Leaf sagte 2008 während der Chinareise des Ehepaars zu einem Journalisten, es sei am schwersten mit Franks Ehrlichkeit zu leben, "aber es macht das Leben wert, wenn man es kann." Jetzt ist Robert Frank im Alter von 94 Jahren im kanadischen Inverness gestorben. Am 12. September eröffnet eine Ausstellung bei C/O Berlin im Amerika-Haus, an dem Ort, wo 1985 Franks Fotografien erstmalig in Deutschland zu sehen waren.