Kunstprojekt in Nairobi

"Die Welt anmalen geht überall"

Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einem Workshop des Künstlers Julius von Bismarck
Foto: One Fine Day and Courtesy the Artists

Teilnehmer eines Workshops des Künstlers Julius von Bismarck

Was kann Kunst im Slum von Nairobi ausrichten? Unsere Autorin hat mit den Berliner Künstlern Katja Aufleger, Jeewi Lee und Julius von Bismarck Workshops für Kinder in der kenianischen Hauptstadt gegeben

Jeewi sagt, ein Druck auf Papier entsteht, wenn Material auf Material trifft, dass sie die Wahrnehmung der Kinder auf ihre Umgebung lenken möchte, auf ihre Spuren und auf Geschichten, die wir durch unsere Hinterlassenschaften schreiben.

Diese Sätze fallen an einem dieser Abende auf unserer Reise für den Verein One Fine Day nach Nairoi. Jeden Tag sitzen Katja Aufleger, Jeewi Lee, Julius von Bismarck und ich nach der Rückkehr aus Kibera unter dem durch Nussgeschosse durchlöcherten Schirm auf der Terrasse unseres temporären Heims. Das Haus aus der Kolonialzeit steht im Schatten neu gebauter Skyscraper chinesischer Investoren, wie sie in ganz Nairobi aus dem Boden schießen. Der Schirm schützt uns vor dem tropischen Platzregen, der zusätzlich zu den Nüssen auf alles niederprasselt. Es sind dieselben Tropfen, die Jeewis geschöpftes Papier heute nicht haben trocknen lassen und gerade Julius’ weiße Farbe von den Blättern seiner Pflanzen spülen.

Kurz nach unserer Ankunft in Nairobi pflanzt Julius auf dem kleinen Grundstück des Kunstzentrums mitten in Kibera, Ostafrikas größtem Slum, einen kleinen tropischen Garten für ein "Landscape Painting", das er mit seiner Klasse produzieren möchte. "Die Welt anzumalen, das ist so eine Sache, die geht eigentlich überall", sagt er. In den folgenden Tagen pinseln Mitchel, Sheila, Lensey und 12 andere Kinder mit Julius gemeinsam Boden, Bäume, Steine, Wäscheleinen, Bananenstauden, Kakteen und Palmen komplett weiß an, um die farblich monochrome Fläche anschließend in ihre ursprüngliche Tonalität zurückzumalen.

Dabei geht es Julius nicht darum, die Welt perfekt zu imitieren. Sondern sie als einen Ort zu betrachten, an dem ohnehin vieles nicht stimmt. Aber es ist auch ein Weltenentwurf, der aus den Wunschbildern der Kinder herrührt. "Wenn die Kinder Türkis cooler finden als grün, werden die Pflanzen halt Türkis."

Schönheit des Mikrokosmos

Kibera: Durch die dichte Aneinanderreihung von Kohlehändlern, Kiosken, Schlachtern und Friseurläden wirkt das Geschäftsviertel unweit der Schulen und des Kunstzentrums, an denen wir arbeiten, wie die Miniatur eines urbanen Lebensraums. Der Mikrokosmos verführt dazu, dieser Enge eine Schönheit und Gemütlichkeit abzugewinnen. Zwischendrin, überall: Kinder.

Eine Kindheit in Kibera, bedeutet auch, diese zu überleben. Viele Menschen sind klein gewachsen, weil ihnen ausreichend Nahrung fehlt. Als vor drei Jahren ein Schüler in einer unserer Klassen mit einem epileptischen Anfall am Boden krampft, können wir keinen Krankenwagen oder Arzt rufen. Die Lehrer kennen die Erste-Hilfe-Griffe. Wenn es gut läuft, überreden sie die Mutter, woanders hinzugehen als zu den Kräuterheilern in den Gassen Kiberas.

"Kibra", das bedeutet übersetzt so etwas wie Wald oder Dschungel. Bereits um 1920 entstand der Ort als Siedlung nubischer Soldaten, die der britischen Kolonialregierung dienten. Das Wirrwarr aus Gassen und Gässchen ist heute Heimat von wahrscheinlich über einer halben Million Menschen verschiedener Volksgruppen. Keiner kennt die Zahl genau.

Die Wüste entsteht im Kopf

Unweit der kleinen, bunt bemalten Lädchen ist das Leben äußerst prekär. Zehntausende teilen sich wenige öffentliche Bäder und Toiletten. Es kommt vor, dass sechs Personen zusammen auf neun Quadratmetern leben. Geschlafen wird auf dem blanken Boden oder dicht an dicht auf wenigen Matratzen. Ein Streifzug durch Kibera führt durch Schlamm, Kot und vorbei an behelfsmäßigen Behausungen aus Lehm und Wellblech. Überall liegt Müll.

Unsere Vorhaben in Nairobi sind klar: Katja möchte mit ihren Kindern Musikinstrumente – Orgelpfeifen – aus leeren Plastikflaschen bauen. Ausgangspunkt für ihr Konzept ist ihre Installation "Sirens (Al Wakra)" - gläserne Pfeifen aus dem Sande des gleichnamigen Wüstengebiets in Katar imitieren den Sound einer "singenden Düne". Die Wüste entsteht im Kopf – durch Klang, durch Materialität.

Jeewi, die sich in ihrem Berliner Atelier mit Wandoberflächen und Abrieb beschäftigt, möchte Papier recyceln, um darauf verschiedene Drucktechniken anzuwenden. Und Julius möchte eben die Welt bemalen. Im weitesten Sinne sollte es den Dreien gemeinsam mit den kenianischen Kunstlehrern gelingen, ihre künstlerischen Ansätze kind- und umgebungsgerecht umzusetzen.

Sprudelwasser als Mutprobe

Eigentlich ist alles da, was wir an Material so brauchen. Doch schnell wird deutlich: Für uns nicht verfügbar. Die von Jeewi angedachte Aufgabenstellung, die Kinder Papier von zu Hause mitbringen oder sammeln zu lassen, ist nicht realistisch. Müll ist hier überlebenswichtig und deswegen längst Teil anderer Verwertungsketten. Deswegen finden Jeewis Kinder kein Papier, Katja keine Flaschen und Julius keine Pflanzen. Das führt zu der absurden Situation, dass wir für Katjas Pfeifen haufenweise Flaschen im Carrefour-Supermarkt kaufen, damit sie überhaupt anfangen kann zu arbeiten.

Unter den Kindern wird es zur Mutprobe, das erste Mal Sprudelwasser zu probieren. Erst nach zwei Tagen tun wir eine Quelle für Plastikreste auf und erstehen einen Sack mit Leergut. Julius’ Pflanzen kaufen wir bei einem der Straßenhändler an der Ngong Road, die hinaus in den Stadtteil Karen führt – das andere Nairobi mit weitläufigen Anwesen und Restaurants.

Am Ende ein kleines Pfeifenkonzert

Dann, draußen das tropische Gewitter tobend, der Strom ausgefallen, in dunklen und engen Klassenräumen ohne elektrisches Licht, fangen Katja und Jeewi an zu arbeiten, und es läuft gut. Die Kinder Charles, Vincent und Pollent hämmern das Wellblech für die Mundstücke der Pfeifen flach, Kimberly und Zedekiah zerschneiden die Flaschen, stecken sie ineinander und tapen sie fest. Nach fünf Tagen kommen tatsächlich unterschiedliche Töne aus den Plastikinstrumenten. Lulu, der hier arbeitende Musiklehrer, und Katja dirigieren ein kleines Pfeifenkonzert.

Sie beide, sagt Katja, seien zwei Menschen aus dem Kunstbereich, aus verschiedenen Disziplinen. Im Arbeiten sei es egal, welchen Kontinent man sein Zuhause nennt. Am letzten Tag fällt es ihr schwer, den Kindern ihre Pfeifen wegzunehmen, um diese irgendwann in Berlin auszustellen. Was sie tröstet, ist dass die Kinder jetzt wissen jetzt, wie es funktioniert.

Jeewi und ihre Gruppe zerreißen geduldig das aus Berlin mitgebrachte Papier, alte Schulnotizen und kenianische Zeitungen in kleine Fetzen, um es anschließend gemeinsam mit Wasser im Blender zu Melasse zu vermengen. Aus den vor Ort gebauten Schöpfrahmen wird die feuchte Masse  herausgelöst und auf Wasser absorbierendes Material gelegt, dann heißt es warten.  Irgendwann besorgen wir einen Fön von irgendwoher und so stehe ich stundenlang zwischen zwei Schulhütten und trockne das Papier. Jeewi und ihre Partnerlehrerin Garret suchen mit Salome, Cliffton, Stacy und Lavender auf dem Boden nach "Spuren", nach all diesen Überbleibseln dieser Leben in Kibera. Später drucken sie Blätter, Schlüssel, Schuhsohlen auf ihre selbst produzierten Bögen.

Kunst muss nicht verstanden werden, Kunst funktioniert einfach

Als die Schüchternheit der ersten Begegnung überwunden ist, suchen die Kinder den körperlichen Kontakt zu uns. Julius wurde inzwischen in Mandevu umbenannt - das heißt Bart auf Suaheli. Viele der Kinder sind Halb- oder Vollwaisen, leben bei Verwandten. Man sieht Kinder oft paarweise durch Kibera laufen, eng beisammen, sich die Hände haltend. In einem Spiel ruft ein Kind eine Zahl aus, irgendetwas zwischen zwei und zehn, und dann knubbeln sich die Gruppen entsprechend zusammen - eng und nah umschließen die vielen Händchen unsere großen Körper. Und auch wir bleiben beieinander. Jeewi, Katja, Julius und ich trennen uns nur kurz, um unter unseren von Moskitonetzen umhängten Betten in einen schlechten Schlaf zu fallen.

"Mein Kunstbegriff ist es, aufzustören, Probleme zu schaffen. Meine Arbeit soll nicht nur in einer guten Ecke stehen. Die Qualität des 'Landscape Painting' liegt in der Absurdität der Situation“, sagt Julius, der normalerweise Blitze fängt, Landschaften in die Luft jagt, im Auge des Hurrikans filmt und dem Feuer folgt, wenn er auf Reisen ist. Weil es wieder regnet, malt er in einen winzigen Raum im Kunstzentrum mit Kindern Palmen auf Papier.

Kunst müsse aber auch nicht verstanden werden, Kunst funktioniere einfach: "Das ist mein Kunstverständnis, und dem muss ich auch gerecht werden, wenn ich Kunst in diesem Kontext unterrichte." Ein kleiner Junge, der seit dem ersten Tag stundenlang über den Zaun auf das skurrile Treiben der Landschaftsmalerei blickt, traut sich hinüber zu uns. Mit einem Pinsel in der Hand hilft er Eugene, Sheila, Ethan und Miriam dabei, weiße Steine braun-gräulich anzumalen inmitten dieses pseudonatürlichen Arrangements. Er lädt zu sich ein: "Wir haben auch Bananenpalmen, die könnt ihr danach anmalen."

Ein Bild entsteht, wenn Material auf Material trifft 

"Es ist eigentlich schön, sich auf die Grundsachen zu fokussieren", sagt Katja, "ohne teures Material." Kunst könne in so vielen Formen passieren, und werde trotzdem in Deutschland in der Schule nicht wirklich gelehrt. "Bei uns ist in der Kunst 'Kompromiss' normalerweise ein negativer Ausdruck, aber genau aus der Dynamik des Improvisierens sind hier die Prozesse entstanden. Das hat etwas zutiefst Schöpferisches", sagt Jeewi.   

Niemand von uns Vieren kann sich ein Leben ohne Rückzugsort, ohne Intimität, geistige und relative materielle Freiheit vorstellen. Jeden Tag kehren wir zurück in eine Welt, zu der die Kinder und Bewohner Kiberas keinen Zugang haben. Sheila, Garret, Salomé und Lavender, diese Kinder werden Kibera vielleicht niemals verlassen, aber vielleicht wird Ihnen die Beschäftigung mit Kunst helfen, sich und ihre Umgebung anders betrachten und gestalten zu lernen.

Sich in der Kunst zu versenken, ihre transformative Kraft zu spüren, ist wichtiges mentales Rüstzeug für jedes Kind, egal wo es lebt. Kunstunterricht in all seinen Formen wurde von den staatlichen Lehrplänen in Kenia in den letzten zwei Jahrzehnten nur rudimentär und über eine lange Zeit gar nicht abgedeckt. Ein Bild entsteht, wenn Material auf Material trifft, durch maximale Nähe, durch intensiven Kontakt.


Ungefähr 1.500 Kinder werden durch die Aktivitäten des Vereins "One Fine Day" wöchentlich von einem kenianischen Team im Bereich Musik, Tanz, Akrobatik und Bildender Kunst unterrichtet. Gegründet wurde der Verein vor gut zehn Jahren von Marie Steinmann und ihrem Mann Tom Tykwer.

Seit 2018 existiert ein Kunstzentrum, das sich noch in der Entwicklungsphase befindet. Die Kuratorin Juliet Kothe reist seit fünf Jahren mit zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern nach Nairobi, um gemeinsam mit dem kenianischen Lehrerteam und den Kindern Kunstprojekte zu realisieren. Der Verein wird durch Bilderspenden von Künstlern und Ausstellungsprojekte mitfinanziert.