Interview

Neuer Filmfestival-Chef: "Locarno soll kein elitäres Festival sein"

Giona A. Nazzaro, künstlerischer Leiter des Filmfestivals Locarno
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Giona A. Nazzaro, künstlerischer Leiter des Filmfestivals Locarno

Mit der gerade gestarteten 74. Ausgabe hat der Italiener Giona A. Nazzaro die künstlerische Leitung des Filmfestivals Locarno übernommen. Er setzt vor allem auf Publikumswirksamkeit - und eröffnet mit einer Netflix-Produktion

Das Filmfestival in Locarno, eines der wichtigsten Filmfestivals weltweit, konnte im Vorjahr nur als kleine Online-Ausgabe für ein Fachpublikum stattfinden. In diesem Jahr zeigt die 74. Ausgabe wieder mehr als 200 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme am Schweizer Ufer des Lago Maggiore. Giona A. Nazzaro (56) ist der neue künstlerische Leiter. Ein Gespräch mit dem Filmkritiker und Autor aus Rom.

Herr Nazzaro, was war die größte Herausforderung für das Festival in Corona-Zeiten?

Die größte war die, das Festival wieder vor Ort durchzuführen. Ein zweites Jahr ohne Publikum und Filmvorführungen in den Kinos oder auf der Piazza Grande wollten wir auf keinen Fall. Und natürlich gehören dazu auch die Begegnungen der Filmschaffenden mit dem Publikum. Wir haben ein umfangreiches Hygienekonzept erstellt, um allen einen sicheren Festivalbesuch zu ermöglichen.

Was ist Ihr wichtigstes Ziel mit dieser ersten von Ihnen künstlerisch verantworteten Festival-Ausgabe?

Ich möchte nicht nur das ganz ambitiöse Autoren-Kino präsentieren, sondern zum Beispiel auch mehr Genrekino. Locarno soll kein elitäres Festival sein. Wir haben nicht zufällig drei Komödien im Wettbewerb. Ich suche nach Filmen, die sich publikumswirksam mit zeitgenössischen Problemen auseinandersetzen. In vielen Köpfen ist so eine Trennung von Unterhaltung und Anspruch. Das möchte ich aufheben. Alle großen Filmemacher haben durchaus auch fürs große Publikum gearbeitet. Denken Sie nur an Fassbinder. Locarno soll Spaß machen, Kinogenuss mit ganz besonderen Filmen bieten.

Sie haben damit überrascht, dass Sie zum Auftakt einen Film von Netflix gezeigt haben, "Beckett". Warum eine Netflix-Produktion zur Eröffnung?

Netflix ist ein großer Player. Dieser und einige andere Internetanbieter machen sehr interessante Sachen. Netflix kauft und zeigt beispielsweise Autorenfilme, die so viel mehr gesehen werden, als wenn sie nur von kleinen Verleihern in die Kinos gebracht werden. Netflix ist für mich ein Verleiher wie jeder andere. Und wir haben mit "Beckett" einen guten Netflixfilm ausgewählt, einen vielschichtigen Thriller, der auch politische Aspekte hat.

Das deutsche Kino ist in diesem Jahr in Locarno nicht so stark vertreten wie in manchem Jahr zuvor. Wieso?

Wir haben, ehrlich gesagt, nichts für den "Concorso Internazionale", den Internationalen Wettbewerb, gefunden. Aber der deutsche Film, der mich total begeistert, läuft im Wettbewerb "Cineasti del presente" (Kino der Gegenwart). Das ist ein sehr kluger Film der deutsch-iranischen Filmemacherin Sabrina Sarabi mit der wunderbaren Saskia Rosendahl in der Hauptrolle. Und zudem ist das deutsche Kino ja durchaus präsent, denn an zahlreichen internationalen Gemeinschaftsproduktionen sind deutsche Produzenten beteiligt, auch Künstler, denken Sie nur an Schauspieler wie Julia Jentsch und Franz Rogowski.

Kann das Festival von Locarno Signale aussenden gegen problematische gesellschaftliche Entwicklungen, wie den Populismus, wie rechtsnationales Denken?

Ja, ganz sicher. Denn die Kunst kann aufs beste die Zeit darstellen. Ein Kunstwerk kann sehr effektiv sein, wenn es frei, auf seine Art, die Realität reflektiert, ohne dabei den Stichwörtern der politischen Aktualität hinterherzurennen, frei von Didaktik. Ein guter Film ist im weitesten Sinn immer politisch, nicht indem er Partei ergreift, sondern indem er die Möglichkeit einer besseren, inklusiveren, gerechteren Welt entwirft.