Nicolás Val in Berlin

Erinnerung als flackernde Präsenz

Unter einer alten Brücke am Görlitzer Park erwachen in Nicolás Vals Fotografien Menschen und Orte, die dem Vergessen trotzen. Die Schau im Berliner Projektraum Fixotek ist ein überzeugendes Plädoyer für ein beharrlicheres Sehen

Bye-bye, Berlin? Vielleicht doch ein bisschen vorschnell. Wer sich in einer angeblich totkommerzialisierten Hauptstadt langweilt, sieht vielleicht nicht mehr genau genug hin. Es stimmt, Nischen sind schwerer zu finden. Ein Portal direkt in die wilden 1990er-Jahre ist der Projektraum Fixotek am südlichen Zipfel des Görlitzer Parks. In den Bögen einer alten Eisenbahnbrücke laufen zur Eröffnung der jüngsten Ausstellung die Generatoren, plötzlich Stromausfall, eine improvisierte Bar wird mit Kerzen illuminiert, und eine gute Mischung aus Kunstenthusiasten und halbwegs durchgeknallten Passanten lässt an eine Durchlässigkeit denken, die Berlin als Kunststadt so interessant gemacht hat. 

Auch die Ausstellung bringt die Erinnerung an Freiräume zurück: Die Fotografien des chilenischen Künstlers Nicolás Val zeigen Menschen, die ein sichtbar hartes, prekäres, chaotisches, aber doch selbstbestimmtes Leben in einem informellen Zuhause führen, in einem besetzen Haus vielleicht. Die Bilder der "The Reverse of Forgetting" betitelten Schau wirken wie Spuren, die gerade so dem Verschwinden entkommen sind – Fragmente von Körpern, Orten, Erinnerungen. In ihrer Zurückhaltung entwickeln sie eine eindringliche Kraft. Es ist, als lausche man einem leisen Echo.

Val, Jahrgang 1990, reiste 2016 in den Osten der Ukraine, ursprünglich, um dort für eine lateinamerikanische Frauenorganisation als Fotograf zu arbeiten. Aus dem Auftrag wurde ein persönlicher Einschnitt: Die Begegnung mit einem Land im Umbruch, mit den Spuren von Krieg und mit der Fragilität des Alltags veränderte seine künstlerische Praxis. Als er 2018 gezwungen war, die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, wurde das Thema der brüchigen Erinnerung zu einem roten Faden seines Werkes.

Wenn das Sichtbare sich auflöst

In Berlin zeigt Val nun eine Serie von Fotografien, die sich nicht als Dokumentation verstehen, sondern als "latente Spuren". Diese Bilder verweisen weniger auf ein konkretes Ereignis als vielmehr auf das, was bleibt, wenn das Sichtbare sich auflöst. Kuratorin Karla Siguelnitzky beschreibt sie als "Akt einer verlängerten Aufmerksamkeit": ein beharrliches Hinsehen, wo das Vergessen längst eingesetzt hat. Manches Verschwinden, so heißt es im begleitenden Text, geschehe still, ohne Aufsehen – und doch hinterlasse es Reste, die sich einprägen.

In der Fixotek werden die Bilder gerahmt und ungerahmt auf alten Backsteinmauern präsentiert, als Papierstoß in einer Vitrine und schwebend vor einer PVC-Bahn, die wiederum mit einem Motiv bedruckt ist. So entsteht eine Vielschichtigkeit von Material und Darstellung, die auf eine große Fülle verweist. Die Fotografien wirken bisweilen abgenutzt, als seien sie selbst schon von der Zeit gezeichnet. Doch gerade in dieser Brüchigkeit liegt ihre Stärke: Die Bilder verwandeln sich in Schwellenräume, an denen Repräsentation unsicher wird und Erinnerung als flackernde Präsenz aufscheint. Gesichter tauchen auf, um gleich wieder zu entgleiten. Landschaften sind erkennbar und zugleich unbestimmt, wie Erinnerungen, die sich nicht ganz festhalten lassen.

Und doch wäre es falsch, Vals Fotografien als Geisterbilder zu bezeichnen. Eher geben sie Stimmen wieder, die sich weigern zu verstummen. "The Reverse of Forgetting" ist insofern auch eine Einladung, über das eigene Erinnern nachzudenken – über all das, was uns entgleitet, und das, was wir vielleicht erst im Moment des Verlusts wirklich zu sehen beginnen. Oder über das, was vielleicht noch da ist. So wie die Freiräume in einer Stadt, die man nicht vorschnell verloren geben sollte.