Sharjah Biennale

Niemand schaut nach Westen

In Schardscha findet gerade die 15. Biennale des Emirats statt. Die Kunst erzählt Geschichten von Kolonialismus und Ausbeutung und setzt auf Austausch zwischen den Beteiligten. Trotzdem bleibt eine auffällige Leerstelle

Alles hier scheint gebaut, um Schatten zu werfen. Schatten, die sich schützend über das legen, was war und was sein wird. Denn das Herz der Biennale im sonnig-heißen Emirat Schardscha ist der Al Mureijah Square. Ein Geflecht aus sechs Galerien, ähnlich zum Verlaufen geeignet wie ein arabischer Souk. Der Platz befindet sich in der Altstadt von Schardscha, und die wird und wurde hier teilweise abgerissen, um neu darauf zu bauen, und zwar der ursprünglichen Architektur folgend. Neues alt.

"Thinking Historically in the Present" heißt die 15. Ausgabe der Biennale, und das passt dann vielleicht ganz gut dazu. 150 Künstlerinnen und Künstler aus über 70 Ländern werden an 16 teilweise extra dafür gebauten Orten gezeigt. Konzipiert wurde die Ausstellung noch vom 2019 verstorbenen Kurator Okwui Enwezor und dann kuratiert von Hoor Al Qasimi, der Direktorin der Sharjah Art Foundation. Wie Enwezor möchte die SB 15 die Ausstellungsorte dezentralisieren und dorthin bringen, wo Kunst eher selten hingeht.

Das bedeutet Busfahren. Zur Eröffnungswoche wurden hunderte Gäste, Ausstellende und Journalisten in einen alten Kindergarten gebracht, eine ehemalige Eisfabrik oder in eine Klinik. Vorbei an Wirkstätten der Ölindustrie, an Sendemasten, die als Palmen verkleidet sind, vorbei an Container-Dörfern ("Labour Camp-For Rent"), gegenüberliegenden Neubauvierteln, aus der Wüste auferstehend, oder vorbei am Supreme Council for Family Affairs, das gleich gegenüber dem Women Sports-Club liegt ("cause you are undefeated").

Der journalistisch-aktivistische Ansatz der aktuellen Kuns

Es mag an den vielen Spielorten in entlegenen Gebieten liegen, dass die SB 15 auffällig viele, nicht allzu sicherungsintensive Videoarbeiten zeigt. So viele, dass es auch in einer Woche unmöglich ist, sie alle zu sichten. Es macht aber auch den dokumentarischen und vielleicht journalistisch-aktivistischen Ansatz der aktuellen Kunst deutlich. 

Da ist zum Beispiel der Kalba Kindergarten, alte Spielgeräte im beschatteten Hof, neue, eher nicht von Kindern stammende Malereien an den Wänden. Darin lässt Gabriela Golder in verschiedenen Videos Kinder Briefe von Gefangenen der argentinischen Militärdiktatur vorlesen. Und hier ist auch eine der eindrücklichsten Arbeiten zu sehen, die einem auch Tage später nicht aus dem Kopf geht. In Erkan Özgens "Wonderland" erzählt ein Junge aus Syrien, was er während des Krieges und seiner Flucht in die Türkei gesehen hat. Nur ist der Junge taubstumm. Und man hat wahrscheinlich noch nie so eindringlich, nachvollziehbar dargestellt gesehen, wie ein Kopf nach hinten fliegt, wenn er erschossen wird. Mit Gesten stellt er da, wie Blut aus Mündern spritzt, Waffen bedient werden oder Wasserquellen versiegen.

Im Africa Institute ist nicht nur Steve McQueens experimentelle und abstrakte Videoarbeit "Pursuit" von 2005 zu sehen, in der er nachts durch eine Amsterdamer Park läuft, sondern auch die Videoinstallation "As British as a Watermelon" (2019) von Mandla. Hier werden Wassermelonen attackiert und gehegt, hier geht es um Rassismus, Erfahrungen von Migranten in Großbritannien und hier fällt der starke Satz "My memory is a long lost appetite."

Keine Ausstellung, um gute Laune zu bekommen

Und damit sind wir mitten drin in den die Sharjah Biennale bestimmenden Themen. Es geht um Post-Kolonialismus, Flucht, Ausbeutung, Vertreibung, Diaspora. Die Suche nach Identität in einer Welt, in der man nicht sein soll. Geschichten aus Turkmenistan, aus Madagaskar, Armenien, Palästina, Ägypten, Indien, Pakistan, Südafrika, Peru, Kolumbien, Korea, Australien sind zu hören und zu sehen. Es geht um Arbeitsbedingungen von Haushaltshilfen in Indien in den Arbeiten von Prajakta Potnis, es geht bei Kader Attia um Architektur in der algerischen Wüste, die vom Westen plagiiert wurde. Es geht um vom Krieg zerrissene Landschaften in Vietnam in den Fotografien von Pipo Nguyen-Duy. Die Suche nach der afro-kubanischen Familiengeschichte bei María Magdalena Campos-Pons. Um Landnahme von Native Americans bei Wendy Red Star. Die Zeit des auf den Westen zentrierten Blickes ist eindeutig vorbei. Eine transnationale Plattform solle die Biennale sein, so Hoor Al Qasimi.

Viele Karten sind zu sehen, Landverteilung, Grenzverschiebung. Viele Arbeiten, die mit traditionellen Handwerk arbeiten. Ibrahim Mahamas beeindruckend riesige Webstuhl-Installation in der frisch umgebauten Kalba Ice Factory zum Beispiel. Der Künstler aus Ghana arbeitet dafür erneut mit gewebten Stoffen, die er mit getragenen Textilien kombiniert. Archana Hande zeigt unter anderem eine Lichtinstallation aus Lochkarten von Webmaschinen und macht damit nicht nur die Textilindustrie in Bengaluru, Indien zum Thema, sondern auch die Beziehungen von Mensch und Maschine.

Wir sehen Fotomontagen mit Folternarben von Vivan Sundaram, wir sehen Mona Hatoums Installation aus Bettgestellen, wie sie in Gefängnissen stehen, schwarzweiße Malereien von Arbeitern in Waffenfabriken in Kairo von Fathi Afifi und so geht das immer weiter. Keine Ausstellung also, um gute Laune zu bekommen.

Auf Doris Salcedo konnten sich alle einigen

Umso interessanter, dass sich das Publikum schwärmend auf die poetischen Arbeiten festlegt. Eine Teezeremonie im von Annalee Davis aus Barbados im mit Kollegen angelegten Garten aus eingewanderten Pflanzen beispielsweise. Die Tanz-Performance "Gueules Noires“" der Compagnie Niya und des Choreografen Rachid Hedli, die als Hommage an die migrantischen Arbeiter im Bergbaubecken von Nord-Pas de Calais getanzt wurde.

Oder die Soundarbeit von Hajra Waheed, für die sie Lieder des Widerstands summen ließ. Dafür erhielt sie den Preis der SB 15, zusammen mit Bouchra Khalili und Doris Salcedo. Bei Khalili geht es um Theatergruppen arabischer Arbeiter, die in den 1970ern im Süden Frankreichs aktiv waren und um fehlende Rechte für migrant workers. Und Salcedos Arbeit ist die, auf die sich so ziemlich alle einigen konnten.

Die kolumbianische Künstlerin hat in eine große helle Halle der Eisfabrik einen Wald aus abgeschlagenen, kargen, vielleicht angesengten Bäumen  stellen lassen. Ihre Wurzeln tasten sich über den Boden. Es ist ein Wald, der mit einzelnen Pflanzen beginnt und sich über den Raum immer mehr verdichtet, bis er zu einem Haus wird, für dessen Form die dicht stehenden Hölzer sauber abgefräst wurden. Aber ist diese Architektur Gefahr, oder bietet sie Schutz?

Eine Leerstelle bleibt

Während die einen den roten Faden suchen, sehen andere in der Vielfalt der Geschichten die kuratorische Stärke. Denn das Dezentrale der Welt soll sich hier spiegeln. Ihr Ziel seien nicht "endgültige Antworten auf bestimmte Fragen, die mit kanonischen oder kunsthistorischen Diskursen umschrieben sind", schreibt die Kuratorin im Guidebock. Anstatt einer einzelnen zentralen kuratorischen Stimme will sie lieber das Konzept verfolgen, sich voneinander leiten zu lassen. "Durch unsere sich ständig weiterentwickelnde interkulturelle Solidarität."

Spricht man mit beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, zeigen sie sich erfreut über die gute Betreuung und die Anwesenheit von Direktorinnen und Kuratoren internationaler Museen und Foundations - aber auch und vor allem über den Austausch zwischen den Ausstellenden. Insofern ist das Konzept aufgegangen.

Was bleibt, ist die Frage, wie man damit umgeht, dass Besucher hier viel über postkoloniale Unterdrückung und Ausbeutung lernen können, aber so gar nichts über die Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten in den Vereinigten Arabischen Emiraten.