Das sechs Tage und sechs Nächte dauernde "Orgien Mysterien Theaters" begann bereits vor Ankunft am Schauplatz, als der Taxifahrer am Wiener Flughafen sich als persönlicher Chauffeur von Hermann Nitsch zu erkennen gab. Sechs Jahre habe er den 2022 verstorbenen Künstler umhergefahren, sagte er und beschrieb ihn als freundlichen, lustigen Menschen, der stets seinen eigenen Wein bei sich führte. Der Fahrer erzählte auch von der Abholung von Journalisten aus dem kleinen Ort Prinzendorf an der Zaya, die wohl vom "6-Tage-Spiel" 2022/23 schockiert waren.
Das verstärkte die Aufregung darüber, was das Publikum dort diesmal erwarten würde. Als "orgiastisches Erlebnis" sowohl für Performer als auch für die Besucherinnen und Besucher wurde es im Vorhinein beschrieben. Zum Tragen zeitloser Kleidung und zum exzessiven, aber den eigenen Rausch beherrschenden Konsum von Wein wurde zudem in einem begleitenden Text auf der Website angehalten.
Nach dem Willen der in Wien beheimateten Nitsch Foundation sollte es die letzte Aufführung der 1957 vom Künstler erdachten Aktionsarbeit sein. Nitsch hat sein "6-Tage-Spiel" damals in Anlehnung an Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk konzipiert. Als 80. Aktion fand ein "3-Tage-Spiel" 1984 zum ersten Mal auf Schloss Prinzendorf statt. Im Jahr 1998 folgte die erstmalige Realisierung des "6-Tage-Spiels" als 100. Aktion – begleitet von Protesten von Boulevard und FPÖ, gar Bombendrohungen. Das jetzt am Pfingstwochenende aufgeführte Stück basierte auf einer von Nitsch seither formulierten zweiten Fassung, die er der Nachwelt in einer über 1000 Seiten umfassenden Partitur hinterließ.
Die Finanzierung erfolgte laut Nitsch Foundation aus eigener Tasche. Angesichts von über 100 Musikern und 80 Akteuren ein enormer Aufwand. Die Ankündigung einer letzten Show ließ sich auch als geschickter Marketing-Schachzug lesen. Zumindest waren zwei der drei Tage bereits vor Beginn der Veranstaltung ausverkauft. Insgesamt wohnten etwa 1000 Besucherinnen und Besucher dem auf Betreiben von Nitschs Witwe Rita wiederaufgeführten Opus magnum des Künstlers bei.
Ein "Sautanz" in Prinzendorf
Die inoffizielle Auftaktveranstaltung fand einen Abend vor Beginn des Spiels in der Wiener Galerie von Lisa Kandlhofer statt, die Nitsch gemeinsam mit Pace und Galerie RX vertritt. Der Österreicher Max Stiegl, einst jüngster mit einem Michelin-Stern ausgezeichneter Koch, tischte für das geladene Kunstpublikum aus aller Welt zwischen üppigem Blumendekor auf. Stiegl war es auch, der am finalen Tag des Spiels in Prinzendorf den sogenannten "Sautanz" aufführen sollte. Offiziell startete das "6-Tage-Spiel" aber erst am nächsten Morgen, als bei offenem Hotelzimmerfenster die aufgeregten Stimmen der ersten Frühaufsteher zu hören waren.
Pünktlich um 4 Uhr 50 öffneten sich die Tore des Schlosses, dann startete die im Programmheft angekündigte Sonnenaufgangsmusik. Der Großteil des Publikums fand sich aber erst ab 9 Uhr auf dem etwa 40 Minuten von Wien entfernten Anwesen ein. Es liegt inmitten des niederösterreichischen Weinviertels, von idyllischer Natur umgeben. Nitsch erwarb das barocke Gebäude-Ensemble 1971, baute es für seine Zwecke um, lebte und arbeitete hier bis zu seinem Tod.
Den großen Innenhof säumen das herrschaftlich anmutende Hauptgebäude sowie ein halbkreisförmig angeordneter Wirtschaftstrakt. Der perfekte Ort für Nitschs Theater. An allen drei Tagen erschienen die als "Akteure" bezeichneten Performer in Kleidung, die nicht lange blütenweiß bleiben würde. Dazu gab es mit Trillerpfeife ausgestattete wechselnde Zeremonienmeister, die schon zu Lebzeiten eng mit dem Künstler gearbeitet hatten. Mit einem scharfen Pfiff begann und endete jede Aktion.
Der Geruch von frischem Blut
Das auf drei Jahre aufgeteilte und exakt choreografierte Spektakel nahm mit einer rituell anmutenden Fußwaschung seinen Anfang. Während in langer Reihe sitzenden Akteuren in einer kleinen Schüssel die Extremitäten gesäubert wurden, hatte das Publikum bereits an den zahlreichen zur Verfügung gestellten Picknick-Tischen Platz genommen. Frischer Kaffee, Brötchen und Wein standen zum Frühstück bereit. Einige scherzten, dass es besser sei, möglichst vor Beginn der Veranstaltung etwas zu essen. Dabei standen Lebensmittel ebenfalls im Mittelpunkt der folgenden Aktion: Tomaten und Trauben neben Fleisch und Fisch auf langen Tafeln in der Mitte des Hofes.
Nach einem weiteren Pfiff zerquetschten die Performer mit den Händen die glänzenden Lebensmitteln zu Brei, woraufhin sich bei über 30 Grad ein penetranter Geruch breitmachte. Er sollte eine der eindrücklichsten Konstanten über die Dauer des gesamten Spiels bleiben: Metallisch und schwer hing Blut in der Luft, ließ sich gleichermaßen riechen wie schmecken. Wie aber riecht Blut? Wie schmeckt es?
Nicht das Blut, das sich nach einem versehentlichen Schnitt mit dem Küchenmesser langsam aus der Wunde quält. Nein, literweise Blut, das Hände, Gesicht und Kleidung rot färbt. Das sich in grüne Wiesen einschreibt, die weiße Kleidung tränkt und in die Ritzen des Steinbodens sickert. Ein Geruch von frischem Blut, wie es beim Aufreißen der Beute durch wilde Tiere austritt. Fast meinte man, an den Enden der weißen Shirts und Hosen helle Krallen und Zähne blitzen zu sehen. Sind wir letztlich nicht auch nur Tiere?
In das Setting der mit purpurnem Chaos bedeckten Tische wurden schließlich nackte Menschen mit verbundenen Augen geführt. Neben einem an ein hölzernes Kreuz gefesselten Mann, auf dem ein totes Schwein ausgeweidet wurde, spiegelbildlich ein weiterer Mann und eine Frau. Beide nackt, sie mit gespreizten Beinen. Ihnen wurden Gefäße mit Blut an die Münder geführt, ihre Körper mit dem Saft übergossen. Spätestens jetzt fühlte es sich an, als sei man Teil einer ominösen Sekte geworden.
Archaische Riten und sphärische Klänge
Nur wenige Augenblicke später bildete sich schon eine lange Schlange am Buffet, begann das für Veranstaltungen obligatorische Netzwerken der ebenso wie eine obskure Religionsgemeinschaft anmutenden Kunstszene. Im mit Rosen überwachsenen Garten hinter dem Schloss ließ es sich dazu herrlich in der Sonne sitzen, Wein trinken und Fleisch essen. Das blutige Spektakel hatte dem Publikum jedenfalls nicht den Appetit verdorben.
Die heitere Stimmung kippte allerdings, als sich eine Art Trauerzug aus dem Torbogen löste und an den Speisenden vorbei in die umgebende Natur zog, angeführt von einer Frau mit vor der entblößten Brust gehaltener, goldglänzender Monstranz.
Es folgten aufgebahrte und an Kreuzen befestigte Menschen, die von den übrigen Akteuren getragen wurden. Immer wieder hielt die Prozession inne, wurde Blut getrunken und in Innereien gewühlt. In diesen Momenten schien die Zeit beinah stillzustehen. Kaum ein Gast sprach. Nur die Musik aus dem Innenhof war deutlich vernehmbar, dazu der Klang einer über dem Geschehen schwebenden Drohne sowie der Schrei eines undefinierbaren Vogels.
Paraden und Schweigezüge
Musik ist ohnehin eines der wichtigsten Elemente des Spiels. Die hypnotisch wirkenden, sphärischen Klänge sollten über die Dauer des Stücks nie verstummen. Je nach Fortgang der Aktionen schwollen sie an oder ebbten ab. Zwischenzeitlich erzeugten an hölzernem Gestell befestigte Glocken sogar Geläut.
Während und zwischen den folgenden Körperaktionen gab es immer wieder Verschnaufpausen, in denen ein Besuch der Ausstellung und Kapelle im Schloss lohnte oder sich die Sinne in einem Geruchs- und Geschmackslabor schulen ließen. Als spannend erwiesen sich auch die ehemaligen Atelierräume von Nitsch ganz oben unter dem Dach. Hier hatten während der ersten Aufführung in den 1990er-Jahre alle Performer gemeinsam übernachtet. Dieses Mal diente jedoch ein Containerdorf hinter dem Schloss als Unterkunft.
Am Nachmittag versammelte sich das auf dem Schlossgelände versprengte Publikum erneut im Hof, weil das Highlight des ersten Tages mit einer Parade durch den kleinen Ort Prinzendorf anstand. Blumen wurden auf dem hölzernen Plateau zu den Füßen des "Gekreuzigten" niedergelegt, woraufhin sich der Zug langsam auf den Weg in die umgebenden Felder begab. Das Publikum folgte schweigend.
Fieberträume
Als die Prozession den Torbogen durchschritt, das Schloss hinter sich ließ und der sonore Klang des Orchesters langsam abebbte, war bald nur noch das Spiel einer begleitenden Blaskapelle hörbar. Zu Volksmusik konnte man nicht nur mit den Gästen ins Gespräch kommen, auch wenn man dabei noch immer einem "Gekreuzigten" durch die Felder folgte.
Zwischenzeitlich wurden starke Männer rekrutiert, das schwere hölzerne Plateau zu tragen. Sammler und Messedirektoren meldeten sich freiwillig, wurden selbst Teil der Performance. Dann stoppte die Karawane unvermittelt, kehrten die Akteure jede Menge Gläser aus einem kleinen Wagen hervor. So wurde plötzlich mitten im Nirgendwo getanzt und Nitsch-Wein ausgeschenkt. Schließlich lief die Prozession weiter durch das umliegende Dorf, verwunderte Blicke der Bewohner auf sich ziehend.
Den Schlussakkord des ersten Tages bildete ein gemeinsames Abendessen zwischen den Gebäuden einer zum Schloss gehörigen alten Mühle, wo man mit den anderen Gästen, Performern und Musikern ins Gespräch kam. Als "Fiebertraum" beschrieben manche Tagesbesucher aus Wien das Erlebte, andere waren zu Tränen gerührt. Bis tief in die Nacht saß man beisammen, trotzte dem einsetzenden Regen, lauschte der durchweg spielenden Kapelle, bis Fremde einander die Hände reichten, um gemeinsam im Regen zu tanzen.
Tod, Trauer und Schmerz
Spätestens jetzt ließ sich ganz verstehen, worum es beim "6-Tage-Spiel" geht. Es kehrt die zum Leben gleichermaßen gehörigen lichten wie dunklen Seiten hervor und wirft uns auf die wesentlichen Gefühle zurück. Entstanden aus der Erfahrung von kriegerischer und struktureller Gewalt sowie kirchlicher Moralvorstellung eignete sich der Wiener Aktionismus genau diese Gewalt an, konfrontierte die österreichische Nachkriegsgesellschaft mit Exzess und Ekstase, führte jegliche Regeln und Normen ad absurdum.
Auch wenn das Spiel heute außer Kommentaren auf Social-Media-Accounts der Nitsch Foundation nicht mehr dieselbe Entrüstung hervorruft wie noch in den 1990er-Jahren, auch wenn der Wiener Aktionismus längst kanonisiert ist und Tierschützer angesichts des unvorstellbaren Grauens der Massentierhaltung verstummt sind, weiß die Performance noch immer eine fast urwüchsige Kraft zu entfalten.
Eine solche Wirkung, die sich erst am Abend in den farbigen Gegenbildern hinter geschlossenen Lidern – im Grunde erst ein paar Tage später – voll erfassen lässt. Denn die während der Aktion geführten Gespräche handelten von Tod, Trauer und Schmerz ebenso wie von Kunst, Literatur und Musik. Fast fühlte man sich mit den anderen Teilnehmenden auf seltsame Art verbunden.
Körperliche Erfahrung fürs Publikum
Wer alle drei Tage durchhielt, wird bemerkt haben, dass es sich beim "6-Tage-Spiel" um eine Aktion handelt, die dem Publikum nach einer gewissen Zeit eine ähnlich körperliche Erfahrung wie den Performern abverlangt. An den folgenden zwei Tagen sollten sich die visuellen Motive zwar wiederholen, aber die Orte und Requisiten wechseln. Neben dem finalen "Sautanz" fanden beispielsweise Aktionen bei Fackelschein im Schlosskeller oder im strömenden Regen mit fünf Meter langen Lanzen statt.
Davon abgesehen stand allabendliches Betrachten der Sterne und meditatives Begreifen des Seins auf dem Programm. Es endete mit Umarmungen und Küssen unter den Spielteilnehmenden bei Sonnenaufgang Dienstagnacht. Auch Tage nach dem Ende des Spiels bleibt einerseits die Erinnerung an den Geruch von Blut, Weihrauch und Rosen sowie andererseits ein tiefes Gefühl von fremd vertrauter Verbundenheit – und der Drang, dem Leben in seinen tiefsten Grundtönen noch intensiver nachzuspüren.