Kittelmanns Klassiker - WEEGEE: „THE NAKED CITY“

„Dieser Film von Greenwich Village ist unbelichtet, denn dort passiert niemals etwas ... Man erkennt die Künstler an ihren Baretten und Bärten ... und frustrierten Gesichtern.“ Das schrieb Weegee unter eine Seite seines Buchs „Naked City“, die eine komplett schwarze Fläche zeigt und lediglich noch das verwendete Filmmaterial von East Kodak bezeichnet. Die Erstausgabe von „Naked City“ ist 1945 bei Essential Books, New York, erschienen – die Typografie ist großartig in ihrer Eleganz, und der Druck der Schwarz-Weiß-Fotos mit den Schwarz- und Grauwerten viel besser als alles, was man heute normalerweise bekommt.
Man kennt Weegee, mit bürgerlichem Namen Arthur Fellig, als Polizeireporter, der immer als Erster an Verbrechens- oder Unfallschauplätzen ankam und Opfer und Täter mit der gnadenlosen Schärfe seiner Blitzlichtkamera aufnahm.

Aber „Naked City“ geht weit über diese Polizeifotografie, an der sich später nicht nur Andy Warhol mit seinen „Crash“-Bildern orientierte, hinaus: Es ist ein fotografischer Gesellschaftsroman, der die Realität der Großstadt in all ihren Facetten zeigt.
Alle möglichen sozialen Schichten kommen vor: Ein weiblicher Fan bei einem Sinatra-Konzert ist da zu sehen, ein schwarzer Transvestit ohne Perücke oder Frauen bei einer Künstlerparty mit koketten Sprüchen auf dem Dekolleté: „Handle with care“ oder „Urgent“.


In Ausstellungen sieht man die Fotografien meistens ohne Weegees Kommentare, aber sie gehören dazu. Im Buch macht Weegee mithilfe dieser kurzen Texte aus den Bildern geradezu einen fotografischen Roman. „Schlaf schön, mein Schatz ...“, steht über der Fotografie des schwarzen Kleinkindes, das auf dem Arm der Mutter schläft, „Was machst du hier um drei Uhr in der Nacht? Solltest du nicht zu Hause sein?“ lautet der Kommentar zu dem kleinen Mädchen auf den Treppenstufen, das sich mit einem Pappkarton schützt.
Das ist ein Fotoessay, in dem das Medium seine vermeintliche Objektivität verliert und seine Subjektivität offen zeigt. Gleichzeitig sind der schwarze Humor und die dem Film noir verbundene Ästhetik immer wieder bestechend. Nur die Künstler in Greenwich Village, die fand Weegee sterbenslangweilig.

 

 

Udo Kittelmann ist Direktor der Nationalgalerie Berlin

und schreibt jeden zweiten Monat in Monopol

 

Weegee: „Naked City“.

Neuauflage von 2008 (University of California Press),

schöner ist die Erstausgabe von 1945,

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