Junge Verlage in Leipzig

Neue Seiten, gute Seiten

Kunst zwischen Deckel und Rücken: Wie drei junge Leipziger Verlage die Tradition der Buchstadt aufmischen

SACHBUCH steht in weißen Versalien auf dem blauen Umschlag aus Plaste. Der Rahmen eines weißen Vierecks, er ist Platzhalter fürs fehlende Titelmotiv. Schlägt man das Buch auf, stehen Malereien und Collagen der Leipziger Künstlerin Henriette Grahnert auf je einer Seite – nicht chronologisch, sondern alphabetisch nach Werktiteln geordnet. Was fehlt, sind die üblichen Angaben zu Größe und Material. Vieles ist anders in diesem Band: Statt eines Vorworts reihen sich unter dem Stichwort "Vorbilder" eurostückgroße Piktogramme nebeneinander, Polke, Picasso, Antipickelcreme und Tocotronic sind darunter. Eine Offenlegung künstlerischer Inspirationsquellen? Eine Verortung zwischen Hoch- und Subkultur? Oder ein bewusstes Spiel mit der Erwartung der Leser an das Sachbuch, das auf einen ins Werk einführenden Text oder ein Interview mit der Künstlerin verzichtet?

Es sei ein Zwitterwesen aus Katalog und Künstlerbuch, erklärte Grahnert bei der Präsentation der Ende 2015 veröffentlichten Publikation. "Es ist auch dafür da, Leuten, die eine meiner Ausstellungen nicht besuchen konnten, mein Werk nahezubringen." Öffentliche Gespräche über Publikationen stehen regelmäßig im Kalender der Leipziger Kunstweltbewohner. Denn Bücher, Kunst und Leipzig – dieser Dreiklang ist kein Zufall. Dahinter stehen Lubok, Spector und MMKoehn – keine Comic-Helden, sondern Verlage, die das Medium reflektieren, mit ihm spielen, es hinterfragen. Was macht sie so besonders, diese kunstaffinen Bücher aus Leipzig?

"Im Buch muss man Kunstwerke anders behandeln als im Ausstellungsraum", sagt Christoph Ruckhäberle vom Lubok Verlag. "Dadurch entsteht etwas Eigenes." 2005 zeigte der Künstler, der der Neuen Leipziger Malereischule zugeordnet wird, in einem Ausstellungskatalog keine Fotos seiner Malereien, sondern druckte Linolschnitte, die sich an ihnen orientierten. Gebunden als Buch, war ein neues Kunstwerk entstanden. Ein Experiment mit Folgen: Ruckhäberle lud weitere Künstler ein, Linolschnitte zu machen, band die gedruckten Blätter zusammen und schrieb "Lubok" drauf – in Anlehnung an die sogenannten Lubki, russische Holzschnitte aus dem 19. Jahrhundert, die auf Volksfesten verkauft wurden. Zwölf originalgrafische Bücher sind seither erschienen: Eine thematische Vorgabe gibt es nicht, der farbige Umschlag kommt stets von Ruckhäberle, und gedruckt wird in einer Werkstatt auf dem Leipziger Spinnereigelände. Jedes der 500 Exemplare riecht noch nach Farbe. "Die Blätter, die da drin sind, gibt es sonst nirgendwo zu kaufen."

Auch Museen und Bibliotheken gehören heute zum festen Sammlerstamm. Und aus Lubok ist ein eigenständiger Verlag geworden – eine notwendige Maßnahme, um die Blattsammlungen für 50 Euro in London, New York und Berlin sowie über den Onlineshop verkaufen und auch andere Publikationen ins Programm nehmen zu können. Dazu zählen Künstlerbücher, Ausstellungskataloge und Monografien, wie Henriette Grahnerts Sachbuch. Einziges Kriterium: "Ich muss den Künstler oder den Grafikdesigner gut finden."

Viele der Künstler wurden an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst ausgebildet – eine Institution, die ihre Buchtradition im Namen trägt. Auch wenn man heute hier neben Buchkunst und Grafikdesign Malerei, Medienkunst und Fotografie studieren kann, spielt das Buch nach wie vor eine Sonderrolle. Um 1900 war die Hochschule die einzige deutsche Akademie für grafische Künste und Buchgewerbe. Geblieben sind Werkstätten für Bucheinband und Buchdruck, die es Studierenden leicht machen, ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Von 40 Absolventen legten zum Diplom im letzten Sommer fünf ein Buch vor. Auch Christoph Ruckhäberle und Henriette Grahnert haben hier studiert.

Im Rahmen eines Projektes der Hochschule lernten sich 1997 auch Jan Wenzel, Markus Dreßen und Anne König kennen – heute die Köpfe hinter dem ebenfalls in Leipzig ansässigen Verlag Spector. Die gemeinsame Arbeit an einem Buch zu Ilya Kabakov wurde für sie zum Schlüsselerlebnis: "Ich hatte damals noch keinen Computer, sodass wir die Texte zum Teil direkt ins Layout geschrieben haben", sagt Jan Wenzel. "Durch diese Parallelität von Gestaltung und redaktionellem Prozess haben wir gemerkt, dass man die Grafik selbst zum Argument machen kann."

Bücher von Spector illustrieren den Inhalt nicht, eher schon kommentieren sie ihn. Format, Papier, Schriftart, Satzgestaltung – hinter jeder Entscheidung steht eine inhaltliche Überlegung. Mit "Liner Notes" hat Spector inzwischen eine eigene Publikation über diese Leipziger Haltung des Büchermachens her-ausgebracht. "Wir fragen uns immer noch bei jedem Titel: Braucht die Welt dieses Buch?" erklärt Wenzel zwischen Metallregalen voller Bücherstapel, in deren Mitte eine Tischtennisplatte als Konferenztisch fungiert. "Uns ist es nicht egal, ob die Auflage im Keller verschimmelt."

Seit 2008 sind an die 60 Titel erschienen, das Spektrum reicht von Fotobüchern des Venedig-Biennale-Teilnehmers Tobias Zielony hin zu einer literarischen Reihe. Heike Geißlers "Saisonarbeit", ein Erfahrungsbericht über den Alltag beim Onlineversandhändler Amazon, ging 2014 durch die Feuilletons. Inzwischen in zweiter Auflage gedruckt wurde die "Lange Liste 79–97", ein Buch voll mit den akribisch geführten Kassenbüchern der Mutter des Gestalters Christian Lange. 12.051 Posten wie Lebensmittel, Steuern und Geschenke geben über das Ende der DDR hinaus Einblick in das Leben der Familie – gelistet wurde von 1979 bis 1997. Die großformatige Publikation in Schwarz-Weiß erhielt zuletzt Bronze bei den "Schönsten Büchern aus aller Welt".

Wie Lubok, so geht es auch Spector einfach um gute Bücher, und die Verlagsgründung war Mittel zum Zweck: "Wie waren absolut blauäugig, was den Markt anging", gibt Wenzel zu. Die ersten Jahre haben sie den Vertrieb selbst erledigt, Pakete zur Post gebracht, den Kontakt zu den Buchhandlungen persönlich gepflegt.

Auch Maria Meyer gründete ihren Verlag MMKoehn vor drei Jahren eher aus dem Bauch heraus. Immer wieder hatten Auftraggeber die Grafikdesignerin gefragt, ob sie nicht auch verlegen könne. Nun genießt sie die Unabhängigkeit, wirklich jede Entscheidung rund um ihre Bücher autonom treffen zu können. Künstlermonografien, Ausstellungskataloge und Publikation für Galerien wie Eigen + Art oder die neu gegründete Kunsthalle G2 in Leipzig zählen zum Programm. Das Schönste am Büchermachen? Die damit verbundene Ernsthaftigkeit: "Das Buch versucht für den Moment sehr genau zu sein, denn es bleibt."

Maria Meyer hat ebenfalls an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studiert. Mit den Machern des Lubok Verlags ist sie befreundet, bei Spector war sie einst Praktikantin und freie Mitarbeiterin. Friedliche Koexistenz statt Konkurrenz zeichnet die kunstaffinen Leipziger Verlage aus, die viel gemeinsam haben: Visionen, Idealismus, eine gesunde Portion Anfangsnaivität, mehr als zwei geschulte Augen und das fest verankerte Bewusstsein, dass ein Buch mehr ist als ein Container für Inhalte. Das Buch – ein handlicher, mobiler und individuell betretbarer Ausstellungsraum.

Dieser Artikel ist erschienen im Monopol Kunst- und Kulturführer Sachsen