Norbert Bisky und Esther Schipper über Berlin

"Eine Stadt wie eine abgerissene Plakatwand"

Alles bröckelt: Die marode A100-Brücke im Berliner Westen vor dem Abriss, im Hintergrund das ikonische, aber auch leere ICC
Foto: dpa

Alles bröckelt: Die marode A100-Brücke im Berliner Westen vor dem Abriss, im Hintergrund das ikonische, aber auch leere ICC

Der Maler Norbert Bisky zeigt im Sommer erstmals seine Werke bei der Galeristin Esther Schipper. Hier sprechen die beiden über ihre Anfänge in Berlin, Kulturkürzungen und den Blick aus Ost und West


Frau Schipper, im Juni zeigen Sie in Ihrer Galerie erstmals eine Ausstellung mit Werken von Norbert Bisky. Sie beide haben höchst unterschiedliche Biografien und Werdegänge. Als Sie 1989 Ihre Galerie in Köln gründeten, leistete Norbert Bisky auf der anderen Seite der Mauer gerade seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR. 1995 machten Sie dann einen ersten Projektraum in Berlin-Mitte auf. Wissen Sie noch, was Sie zur Premiere gezeigt haben?

Esther Schipper: Eine der ersten Ausstellungen war mit Paul McCarthy. Da musste sich das Publikum ein Pinocchio-Kostüm anziehen, um dann in einen anderen Raum zu gehen, wo McCarthys Video "Pinocchio Pipenose Householddilemma" lief. Nur in diesen Kostümen durfte man sich das Video angucken. Wir hatten das vorher schon in unseren Kölner Räumen gezeigt. Ich hatte gedacht, in Köln – mit seiner Karneval-Tradition – werden die Leute nicht fremdeln mit so einer komischen Pinocchio-Maske, einem Kostüm, großen Clownsschuhen. Aber das ging gar nicht. Dann haben wir die Ausstellung in der Auguststraße in Berlin-Mitte gezeigt, und es wurde ein großer Publikumserfolg.

Waren Sie schon zu DDR-Zeiten in Berlin gewesen?

ES: Nein. Ich bin zwar in der DDR gewesen, aber in Dresden, nicht in Berlin. Eine dieser Großausstellungen im Gropius Bau, ich glaube, es war "Metropolis", hat mich dann nach dem Fall der Mauer hergebracht, und mir war sofort klar: Hier muss ich hin. Ich hatte das Gefühl, dass hier alles möglich war. Meine Freunde und die Künstler, mit denen ich damals arbeitete, empfanden es genauso. Andere westeuropäische Städte sind durch etablierte Strukturen und soziale Hierarchien, durch Großfamilien oder Netzwerke so dicht und verschlossen, dass man nicht das Gefühl hat, man könnte das in irgendeiner Form durchbrechen oder etwas Neues kreieren. Berlin war völlig anders: aus der Zeit gefallen und so porös und zerbrochen. Da lief man mit staunendem Auge durch und dachte: Hier kann man etwas aufbauen.

Norbert Bisky, Sie wurden 1970 in Leipzig geboren und begannen 1990 ein Studium in Berlin. Wie haben Sie die Stadt wahrgenommen?

Norbert Bisky: Ich habe 1990 ein Kunstgeschichtsstudium an der Humboldt-Universität aufgenommen und bald gemerkt: Das ist nichts für mich, das reicht mir nicht – ich will lieber selbst malen. Der Herr von der Studienberatung hat mir dazu gesagt, ich solle aufpassen, dass ich nicht übertreibe und mich lieber mit den Umständen arrangieren. Darauf habe ich nicht gehört, aber ich habe eine Weile gebraucht, schließlich meinen Mut zusammengenommen und mich entschieden, Kunst zu studieren. Dann bin ich an die Universität der Künste gewechselt. 

Haben die Stadt Berlin und die legendäre Nachwendezeit bei der Entscheidung eine Rolle gespielt? 

NB: Ja, das hat eine Riesenrolle gespielt, wobei damals viele Prozesse parallel abgelaufen sind. Auf der einen Seite gab es diese wahnsinnige Aufbruchsstimmung, auf der anderen Seite war aber auch unglaublich viel am Boden. Die Stadt war kaputt, eine Menge Leute aus dem Ostberliner Umfeld, aus dem ich kam, waren komplett orientierungslos, was sie mit ihrem Leben machen sollen. Andere hatten schwere Existenzprobleme. Gleichzeitig machten die ersten Clubs auf, es gab Techno-Partys und die ersten Love Parades. Es gab viel Freizeit. Viele, die aus ihrer gewohnten Bahn geworfen waren, hatten sehr viel Zeit, nachzudenken und Sachen auszuprobieren. Und dann kamen jede Menge interessante Leute mit Energie in die Stadt.

Haben Sie die aufkeimende Galerienszene rund um die Auguststraße schon wahrgenommen? 

NB: Am Anfang nicht wirklich. Ich hatte ehrlich gesagt überhaupt gar keine Ahnung. Bis heute nehme ich es der DDR übel, dass wir wirklich hinter dem Mond gelebt haben und null Anschluss an die zeitgenössische Kunstszene hatten.

Inwiefern?

NB: Es gab kein Verständnis, was die Kunst der Gegenwart ist, wie die aussehen könnte. Ich wusste nichts über Warhol, Beuys oder de Kooning. Mit dem Studium wollte ich meine riesigen Wissenslücken auffüllen und ganz schnell ein "amerikanischer Künstler" werden. Oder zumindest das, was ich darunter verstand. Ich wollte immer malen, aber auf keinen Fall etwas mit diesem kaputten, zerstörten, gescheiterten Ostdeutschland zu tun haben.

Und doch ist Ihre Malerei stilistisch vom sozialistischen Realismus geprägt.

NB: Georg Baselitz, bei dem ich in Berlin studierte, hat zu mir gesagt: Sie müssen sich mit ihrer Biografie und ihrer Geschichte auseinandersetzen, das ist doch interessant! Ich habe mich lange dagegen gesträubt, auch weil ich dachte, dass die Beschäftigung mit meiner ostdeutschen Herkunft keine ausreichende Substanz bietet. Inzwischen ist es völlig absurd, selbst junge Menschen, die nach 2000 geboren sind, beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen.

Welchen?

NB: Sie sind auf der Suche nach den Spuren einer Gesellschaft, die zusammengebrochen ist und befassen sich mit den holprigen Biografien ihrer Eltern. Das ist ein Riesenthema, etwa auch bei KünstlerInnen wie Andrea Pichl oder Henrike Naumann. Wobei man aber auch sehen muss, dass das nur ein Bruchteil von dem ist, was Berlin interessant macht. Es gibt eine riesige migrantische Community, die sich wiederum auf ganz unterschiedliche Herkunftsländer aufsplittet; es gibt die queere Community, es gibt so viele verschiedene Szenen, die sich überlagern in der Stadt - und Gott sei Dank nicht so gut sortiert sind wie woanders. Ich glaube, viele Ostdeutsche sind immer noch ganz schön mit sich beschäftigt, und das sehe ich auch kritisch.

ES: Die Themen, die du hier ansprichst, sind der Grund, weshalb mich deine Arbeiten immer schon so interessiert haben. Wir haben ab 1995 den Raum in der Auguststraße gehabt, damals noch parallel zu der Galerie in Köln, sind dann aber Anfang 1997 ganz hergezogen. Und zwar in den Ostteil der Stadt, nach Mitte, in eine riesige Altbauwohnung mit Ofenheizung. Wir haben in unserem Programm den Aspekt der ostdeutschen Identität nie wirklich aufgegriffen. Aber ich beschäftige mich schon sehr lange damit. Ich lebe seit 30 Jahren in einem Viertel der Stadt, wo bis heute die Spuren der Teilung präsent sind. Und es ist mir wichtig, dass dieser Teil der Geschichte auch zu einem Bestandteil unserer Galeriegeschichte wird.

Frau Schipper, Ihre Galerie hat sich gerade anfangs durch kühne Konzeptkunst von Kollektiven und Künstlern wie General Idea, Angela Bulloch, Philippe Parreno, Liam Gillick oder Dominique Gonzalez-Foerster einen Namen gemacht. Wie ist es jetzt zur Zusammenarbeit mit Norbert Bisky gekommen? Wie haben Sie beide zueinander gefunden? 

NB: Über gemeinsame Freunde.

ES: Die Freundin, die mich gefragt hat, ob ich mir eine Zusammenarbeit mit Norbert vorstellen könnte, dachte, da käme sicherlich ein Nein raus. Tatsächlich haben wir ja auch erst seit Kurzem verstärkt Malerei ins Programm genommen. Bei der Überlegung, einen Künstler oder eine Künstlerin ins Programm aufzunehmen, spielen viele Aspekte eine Rolle. Aber ganz entscheidend ist für mich, dass sich mir dadurch die Möglichkeit bietet, mich mit anderen Themen auseinanderzusetzen. Eine solche Zusammenarbeit muss für mich immer auch eine intellektuelle Bereicherung werden, mich auf neue Gedanken bringen, neue Sichtweisen auf die Welt zeigen.

Und wonach wählt ein Künstler seine Galerie aus? 

NB: Die Galerie hier ist ein Ort, an dem Kunst sehr ernst genommen und in durchdachten Ausstellungen präsentiert wird. Mir gefällt, dass es keine Fokussierung gibt, zum Beispiel ausschließlich auf Malerei. Denn die Kontextualisierung von Malerei hat sich stark verändert durch das ganze Chaos in der Welt um uns herum.

Inwiefern?

Sie gilt jetzt nicht mehr nur als spießig-konservative, ewig-gestrige Ausdrucksform von Leuten, die den Schuss nicht gehört haben. In einer Zeit, in der gerade so viel zerstört wird, bekommt die Beschäftigung mit einer Sprache, die schon über so viele Generationen eine Tradition hat, auf einmal einen anderen Kontext und vielleicht auch was Widerständiges. Malerei führt ein Gespräch mit unseren Vorfahren. Es gibt zurzeit wieder eine Menge Leute, die gar nicht mehr mit den Vorfahren reden wollen, sondern geschichtsvergessen handeln. Die wollen keine Gespräche mehr führen, sondern leben erst so richtig in Disruption und Zerstörung auf. Hier in der Galerie habe ich viele fantastische Ausstellungen gesehen und freue mich, künftig in einem Gespräch mit den anderen Künstlerinnen und Künstlern und ihren Ausstellungen zu sein.

Können Sie schon etwas konkreter über Ihre neuen Bilder sprechen, die bei Ihrer Ausstellung bei Esther Schipper zu sehen sein werden?

NB: Im Atelier bin ich noch mitten im Prozess. Die Ausstellung wird "Polympsest" heißen. Es geht eigentlich genau um die Themen, die Teile unseres Gesprächs sind. Dass sich in einem urbanen Raum, in dem ich lebe, hier in Berlin, ganz viele Schichten kulturell überlagern. Dann kommt jemand, reißt wieder etwas ab, zerstört es, macht es kaputt, aber es bleiben ein paar Spuren. Und dann kommt der nächste. So eine Stadtgesellschaft, die entsteht wie eine abgerissene Plakatwand am Bauzaun oder Stromkasten. Damit beschäftige ich mich malerisch.

Wir haben anfangs über die legendäre Aufbruchsstimmung der Nachwendezeit gesprochen. Aktuell beklagen viele in der Kulturszene die politische Polarisierung, das Schwinden der Freiräume und nicht zuletzt die drastischen Sparmaßnahmen. Wie ist aktuell die Stimmung unter den Kollegen? 

ES: Ich glaube, gerade jetzt sollten wir unser Allerbestes geben. Es gibt so viel Unsicherheit in der Welt. Vor Kurzem waren es die angedrohten Zollkriege, wo wir auch nicht wussten: Sind wir betroffen, sind wir nicht betroffen? Und das beschäftigt natürlich nicht nur uns, sondern auch unsere Künstler und unsere Kunden.

Sind auch Sie betroffen?

ES: Von den Kürzungen des Kulturetats sind wir nicht direkt betroffen, aber indirekt natürlich schon. All das ist ein ganz, ganz feines Gebilde – eine Welt, die nur als Gesamtheit funktionieren kann. Dazu gehören nicht nur Künstler und Künstlerinnen und die Sammlerinnen und Sammler, genauso wichtig sind die Institutionen und Projekträume, die Möglichkeiten Ateliers zu finden und hier zu arbeiten, die Stipendienprogramme und vieles mehr. Und klar ist: Jede Kürzung zerreißt einem das Herz. Aber genau deswegen scheint es mir wichtig, dass wir mit unserer Arbeit etwas dagegensetzen. Und ich habe das Gefühl, jetzt zum Gallery Weekend wird es fantastische Ausstellungen geben.

NB: Berlin lebt von der Kultur. Die Leute kommen ja nicht her, weil das Wetter so toll wäre oder die Sehenswürdigkeiten so spektakulär. Gerade junge Menschen, die auf der Suche sind, die etwas aus ihrem Leben machen wollen, überhaupt Leute mit Energie, fühlen sich von der Stadt angezogen, weil es hier eine extrem vielschichtige, reiche Kulturszene gibt. Und wenn man daran zuppelt und einkürzt, zerstört man sehr viel, was die Stadt und ihre Zukunft ausmacht. Es ist furchtbar, wenn die Projekträume keine Mittel mehr haben. Es ist sehr schwierig, wenn junge Künstlerinnen und Künstler kein Atelier mehr finden. Und es ist richtiger Mist für die Stadt, wenn Kulturräume dicht machen müssen und damit Orte der Begegnung verschwinden. Denn die brauchen wir als Gesellschaft dringender denn je.