Street-Art in Berlin

"Die Wände der alten Meister gehen langsam verloren"

Berlin ist eine Hochburg der Wandmalerei. Seit 45 Jahren fotografiert Norbert Martins die Freiluft-Kunstwerke für sein Archiv. Im Interview spricht er über seine Faszination und die Geschichte der Street-Art

Herr Martins, wie hat die Corona-Krise die Street-Art verändert?

In der Zeit der Corona-Pandemie ist nur ein einziges Wandbild in Berlin entstanden, sonst ist weitaus mehr gemalt worden. Das Werk heißt, "Das Rote Band, was uns alle verbindet", es ist sehr bunt, sehr schön, man nimmt es war und freut sich darüber.

Wie viele Wandmalereien entstehen ansonsten in ähnlicher Zeit?

Die letzten zwei Jahre wurde sehr viel gemalt, durch die Street-Art-Festivals, die in Berlin veranstaltet wurden. In einem Jahr kamen 23 Bilder, im nächsten zehn Bilder durch die Festivals dazu. Zusätzlich kommen noch die Aufträge der Wohnungsbaugesellschaften, die haben durch die Verschönerung ihrer Plattenbauten mit Wandmalereien eine Vollvermietung bekommen. Insgesamt sind in den letzten zwei Jahren über 60 Wandbilder entstanden.

Gibt es bestimmte Themen und Motive, die besonders oft gemalt werden?

Verfolgt man die Wandmalerei und ihre Geschichte seit 1975, erfährt man, dass die Künstler zu Beginn versucht haben, mit den Mietern ins Gespräch zu kommen, um mit ihnen zu diskutieren, was an ihre Fassade gemalt werden könnte. Was hat in dieser Gegend stattgefunden? Was ist hier Wichtiges geschehen? Diese Merkmale brachten die Künstler in das Wandbild ein. Zusätzlich gab es die Hausbesetzer-Szene, deren Wandbilder natürlich politische Motive bargen. 

Und wie ist das heute?

Heute, unter anderem durch die Festivals, kommen Künstler aus der ganzen Welt nach Berlin und malen etwas, ohne es dem Kontext der Umgebung anzupassen. Dadurch gab es auch schon eine Menge Ärger. In Tegel beispielsweise gibt es ein Wandbild, auf dem steht ein Mädchen in einer Blutlache und schaut in einen Wald, in dem jemand von Pfeilen durchbohrt am Baum gefesselt ist. Nebenan aber ist ein Kindergarten, und die Kinder sind verstört durch das gruselige Bild. Es passt überhaupt nicht dorthin, vielleicht muss es wieder übermalt werden. Die Künstler, die jetzt nach Berlin kommen, malen in ihrem Stil und damit ist die Sache für sie erledigt. Sie suchen keine Bezugspunkt mehr. 

Wo sind die meisten Wandbilder in Berlin zu finden?

Sehr gut kann man zu Fuß durch Kreuzberg gehen, da sind eine ganze Menge Wandmalereien zu sehen. Hier gebe ich auch private Führungen, die beginnen am Kottbusser Tor und führen durch den ganzen Stadtteil, durch sehr verwinkelte Nebenstraßen. Es ist wie eine Freiluftgalerie.

Was fasziniert Sie so an der Wandmalerei? Wie unterscheidet sich die Wandmalerei für Sie von der klassischen Malerei?

Künstler, die an der Leinwand malen, suchen sich völlig frei Motive, von denen überlegt wird, in welchem Zimmer sie am besten aufgehoben wären. Künstler, die draußen malen, hinterlassen ein Werk für die ganze Nachbarschaft und suchen sich daher Bezugspunkte aus der Umgebung. Werner Brunner beispielsweise malte in die Flughafenstraße einen Rosinenbomber an eine Wand. Das ergibt Sinn, da damals über genau dieses Haus eben jene Flugzeuge flogen, die dann dahinter auf dem Flughafen Tempelhof landeten. Einen Rosinenbomber auf eine Leinwand zu malen, hat nicht den gleichen Effekt. Wandmalerei war damit etwas Sozialeres, eine Kunstart, die in der Kommunikation zwischen vielen Beteiligten entstand. Wie gesagt, heute malt jeder eher, was er will.

Und wie kamen sie darauf, sich damit so eingehend zu beschäftigen?

Das erste Wandbild in Berlin entstand 1975, der Weltbaum von Ben Wagin, beim Bahnhof Tiergarten, das habe ich fotografiert, noch mit Dias ging das damals. Meine Frau und ich fragten, nachdem wir ein weiteres Wandbild entdeckt hatten, nach einer Liste von allen registrierten Fassadengemälden in Berlin. Ich bin alle dort vermerkten Werke abgefahren, habe sie fotografiert und mich interessierte einfach sehr, wie diese Bilder entstehen konnten, so an einer Wand. Dann bin ich immer weiter in das Thema getaucht und bald haben mich Künstler selbst kontaktiert, wenn sie etwas neues gemalt hatten, sodass ich das in mein Archiv aufnehmen konnte. 

Und wie umfangreich ist Ihr Archiv mittlerweile?

Ich besitze Dokumentationsmaterial von 45 Jahren, in einer Datenbank findet sich alles genauestens aufgeschlüsselt. Das Denkmalamt Berlin hatte Interesse an meiner Sammlung gezeigt, da ich so viel Zeit und Arbeit hinein gesteckt habe, wollte ich sie aber nicht kostenlos abgeben, also sind sie letztlich abgesprungen. Das finde ich schade, das Archiv macht ein Stück Berliner Geschichte aus. 20.000 Bilder habe ich, von über 900 großen Wandbildern und ihrer Entstehung. Viele Bilder werden auch schnell wieder übermalt, es gibt eine illegale Gruppe namens 1 UP hier in Berlin, die das macht, da muss ich flink sein, mit der Erfassung. Für mich ist es ein Wermutstropfen, dass die Stadt Berlin sich nicht um dieses Lebenswerk schert. Auch die Stadtführungen, die ich gebe, mache ich nur auf Aufforderung von interessierten Besuchern der Stadt. Berlin selbst kümmert sich nicht darum, anders, als Städte wie Brüssel oder Lyon.

Haben sie einen Lieblingskünstler in Berlin, den man vielleicht kennt? 

Werner Brunner beispielsweise ist bekannt in Berlin, er ist über die vielen Jahre ein Freund von mir geworden. Mein Lieblingskünstler aber ist Gert Neuhaus, der Illusionsmalerei fertigt, man sieht also Dinge, die gar nicht da sind. In meinen Augen ist das das Meisterwerk in der Wandmalerei.

Könnten Sie die Geschichte der Wandmalerei kurz zusammen fassen?

Ihren Ursprung hat die Wandmalerei in Mexico. Diego Rivera, der Mann der Malerin Frida Kahlo, hat um 1918 erstmals ein Bild an eine Außenwand gemalt, statt in den Innenraum. Rivera war politisch sehr engagiert und hat dies auch in seinen Fassadengemälden gezeigt. Es kam sogar zu einem Skandal, da er ein kommunistisches Bild an das Rockefeller Center in New York City gemalt hat, das er dann überpinseln musste. Letztlich kam die Wandmalerei von Mexiko nach Europa.

Wohin dort zuerst?

Bremen war 1971 die erste deutsche Stadt, in der man die Bilder fand. Dort, wie dann auch in Berlin, wurde die Wandmalerei als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angewandt, für Künstler aus der jeweiligen Stadt, die finanzielle Unterstützung erhalten sollten. Durch Wettbewerbe wie "Kunst im Stadtraum" oder "Farbe im Stadtbild" malten sie die ersten Wandgemälde. Als nächstes kamen die Bilder der Hausbesetzer-Szene dazu. Nach dem Mauerfall habe ich in Ostberlin nach Kunstwerken gesucht und überwiegend grafische gefunden, es stand nicht viel Farbe zur Verfügung. Dann begann die Zeit der Graffitis und der Illusionsmalerei, initiiert durch Gruppen wie "Cité Creation". Als Letze griffen die Wohnungsbaugesellschaften auf Wandmalerei für ihre Plattenbauten zurück, da Menschen auch in Betonklötze eher einziehen, wenn sie mit schönen Bildern verziert sind. 

Gibt es Maler, die Sie zu Beginn ihrer Aufzeichnung kennen gelernt haben, und die noch immer malen?

Sicher, zum Beispiel Gert Neuhaus, der hat erst letztes Jahr mein Lieblingsbild von ihm restauriert. Aber viele junge Künstler sind auch nachgerutscht, die haben illegal begonnen, dann aber richtige Firmen gegründet und fertigen die Bilder im Nu. Wofür früher ein Künstler anderthalb Monate gebraucht hat, das schaffen die in einer Woche.

Wie hat sich denn die Street-Art-Szene generell verändert? 

Die Wände der "alten Meister" gehen natürlich langsam verloren. Bilder wurden oft in Baulücken gemalt, die nach und nach mit Häusern gefüllt werden. Oder sie werden von Wärmedämmung überdeckt, die nachträglich angebracht wurde. Heute malt man daher lieber auf Vorderfassaden, Wandmalerei passiert jetzt vor allem, um etwas Farbe in triste Gegenden zu bringen.

Wie wichtig ist Wandmalerei in der Gesellschaft? 

Naja, politisch ist bei den Gemälden heute nichts mehr. Es handelt sich nur noch um Motivmalerei, über die sich die Leute freuen, oder eben nicht. Aktiv in die Entscheidung, welches Kunstwerk wo entsteht aber, werden sie meist nicht mehr eingebunden. 

Wie haben sie den Kontakt zu den Künstlern gefunden?

Es lies sich rasch Kontakt zu den Berliner Künstlern aufbauen, ich war ja immer da, wenn sie malten. Die internationalen Street-Art-Künstler kenne ich nicht unbedingt, aber ich habe sozusagen viele "Informanten" die mir schreiben, wenn sie sehen, dass jemand malt. Und dann mache ich mich sofort auf den Weg.