Olivier Rousteings Couture-Schau für Gaultier

Hochzeit der Modekönige

Mit Balmain-Kreativkopf und "Wonder Boy" Olivier Rousteing setzt Gaultier die Reihe an Haute-Couture-Kollaborationen fort. Rousteings Schau war eine Hommage an den legendären Schock-Designer und bezog Stellung zu politischen Themen

2020 nahm Jean Paul Gaultier seinen Hut — oder warf ihn vielmehr in den Ring. Nach fast 50 Jahren Seemanns-Ästhetik und spitzer Brüste wollte er nicht mehr. Was nicht bedeutete, dass es keine Gaultier-Schauen mehr geben sollte. Stattdessen begann der Modemacher, sich für jede Saison einen anderen kreativen Kopf einzuladen und ihn die nächste Kollektion entwerfen zu lassen. Nachdem zuletzt Sacai-Designerin Chitose Abe und Glenn Martens von Y/ Projects dran waren, kommt jetzt Olivier Rousteing zum Zug, seit elf Jahren Creative Director der Marke Balmain.

Das Fashion-Hacking, also eine Disruption durch externe Kreative, ist seit einigen Jahren beliebte Praxis in der Modewelt. Mal wird sie regelmäßig (wie im Fall von H&M), mal als einmaliges Projekt (wie im Fall von Balenciaga und Gucci) betrieben. Bei Rousteings Arbeit für Gaultier ging es vor allem darum, den erfolgreichsten Kreationen des Modehauses zu huldigen und die DNA der Marke neu zu interpretieren. Es bedeutete für den jungen Designer, der den größten Teil seiner Karriere für Balmain gearbeitet hatte, aber auch eine Neutarierung der eigenen Arbeit: "Diese Kollaboration hat mir geholfen zu verstehen, wer ich ohne Balmain bin."

Einst ein Couture-Haus, war Balmain Ende der 1990er für einige Jahre in der Versenkung verschwunden, bis Christophe Decarnin es 2006 wiederbelebte mit Streetwear, die bestimmt war von "Distressed Jeans" und Militär-Jacken mit spitzen Schultern. 2011 wurde Decarnin von dem damals 25-jährigen Rousteing abgelöst, der den Umsatz und die Beliebtheit der Marke befeuerte, seit 2019 macht Balmain wieder Haute Couture.

Für Gaultier lieferte Rousteing genau das: hohe Schneiderkunst. Die Schau, die das Fashion-Publikum Anfang Juli zu sehen bekam, war eine Hommage an Mode als Kunstform, sie war eine Verbeugung vor dem Designer Jean Paul Gaultier. Einige der Models trugen kleine Nadelkissen ums Handgelenk, ein Kleid bestand aus einem riesigen Stoffherz, das ebenfalls an ein Nadelkissen erinnerte, die Stoffbahnen der Scherpe wirkten noch zusammengesteckt, wie in dem Prozess ihrer Entstehung belassen, der dadurch sichtbar gemacht wurde.

Die Kleider, die über den Laufsteg geschickt wurden, waren primär Neuinterpretationen von Klassikern der Marke – und das nicht nur bezogen auf Mode-Entwürfe, sondern auch auf das Design der nicht weniger beliebten Gaultier-Parfums. Durchschimmernd blaugestreifte Kunststoff-Tops imitierten die ikonischen Flakons, Schmuck und Schuhe erinnerten stark an die blechdosenartigen Verpackungen, in denen sie verkauft werden. Auch als skulpturale Schuhabsätze fanden die Glasflakons in Rousteings Schau Verwendung.
 

Outfits, die den Designer berühmt gemacht haben, vor allem die Kegelbrüste, mit denen Madonna die 1990er aufgewirbelt hat, waren fester Teil des Inspirationsrepertoires für die Schau. Gleichzeitig war sie sehr persönlich, sehr Olivier, als wollte Rousteing sagen: Vois, Jean, c’est moi, ich biete mich dir dar. Auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft behandelte der junge Modeschöpfer in seinen Entwürfen für Gaultier.

Auf der Suche nach den Wurzeln

Olivier Rousteing, aufgewachsen als Adoptivsohn zweier weißer Elternteile im gutbürgerlichen Bordeaux, begab sich mit 30 Jahren auf die Suche nach seinen biologischen Eltern. Von Netflix begleitet, ist diese Reise zum zentralen Element im Film "Wonder Boy" geworden. Auch wenn Rousteing seine Erzeuger am Ende des Films noch nicht kennt, erfährt er einiges über seine ethnische Herkunft, nämlich, dass seine Mutter aus Somalia und sein Vater Äthiopier ist.

Ausgehend von dieser Identitätssuche begann sich Rousteing intensiver mit Kostümgeschichte und Kultur der Heimatländer seiner biologischen Eltern auseinanderzusetzen und diese Einflüsse in seine Entwürfe mit einfließen zu lassen. Auch der nordafrikanische Raum, von Ägypten bis zum Maghreb mit seinen diversen Bevölkerungsgruppen, diente in den letzten Jahren als Inspirationsquell für den Pariser Designer, der für seine Ressort-2022-Kollektion aus seinen Eindrücken der Ausstellung "Divas, from Oum Kalthoum to Dalida" am Institut du Monde Arabe in Paris schöpfte.

In seinem Beitrag für Gaultier ist dieses Element seiner Arbeit, die Auseinandersetzung mit den Kulturräumen seiner eigenen Wurzeln, eine besonders starke Setzung. Eröffnet wurde die Modenschau mit einer Reihe an Herren-Entwürfen, einem lauten Ensemble von Muster-Clashs: Kacheln in warmen Rot- und Orangetönen trafen auf die kühlen ikonischen Breton-Streifen, für die der Name Jean Paul Gaultier steht.

Für diese Kreationen ließ sich der Balmain-Designer von Gaultiers 1994er Herbstkollektion inspirieren, in der dieser, dem Ethno-World-Trend der Nineties folgend, gelayerte bunte Muster, Tattoos, Nasenringe, Ketten und Räucherstäbchen auf den Catwalk brachte. Viele der Stilelemente würden heute wohl das unangenehme Gefühl von kultureller Aneignung auslösen. Überraschenderweise schafft es Rousteing, dieses Klischee zu umgehen. Anstatt an Ethno-Hippie erinnerten die Figuren, die mit harajukuhaften Plateau-Stiefeln den Laufsteg herunterliefen, an moderne Sci-Fi-Entwürfe zwischen "Dune" und Afro-Futurismus. Eröffnet wurde der erste Teil der Schau von einer Riege an Männer-Models – ein Hinweis des Designers auf die schlechtere Bezahlung männlicher Mannequins verglichen zu der ihren Kolleginnen.


Geschlechter überwinden

Gender ist ein Thema, das sich durch die gesamte Modenschau zog. Inspiriert wiederum von den Flakons der Gaultier-Parfums, klassischerweise entweder mit Sanduhrfigur für die Damen- und breiten Schultern für die Herrenflakons, präsentierte Rousteing kunststoffene Brustpanzer. Diese verhüllten die Körperformen der Models und imitierten zugleich nackte, bloße Körper. Doch statt sich dem binären Geschlechtersystem zu unterwerfen, zeichneten sich an einigen der femininen Schalen der ausgebeulte Schritt ab, um auf die Diversität von Geschlechtsidentitäten hinzuweisen.

Bei der Auswahl seiner Models liegt Rousteing nach eigenen Angaben sehr daran, mehr Vielfalt in den Modebetrieb zu bringen: Viele sind Schwarz oder PoC. In seiner Netflix-Doku und auch in Interviews thematisiert der Balmain-Designer regelmäßig den Rassismus in den französischen Modehäusern, es ist also kein Publicity-Gedanke, der den Modemacher antreibt, man nimmt ihm ab, dass ihm das Thema wichtig ist – dass er etwas verändern will. Einer der beeindruckendsten Momente in der Schau vollzieht sich, als ein sehr helles und ein sehr dunkles Model nebeneinander den Laufsteg hinunterstreiten, beide mit einem großen, schwangeren Kunststoffbauch, den sie mit den Armen umschlingen.

"Es ist 2017. Und es heißt trotzdem, mein Casting sei divers", beschwert er sich in dem Netflix-Film. "Dabei ist das normal. Mein Casting spiegelt die Welt wider, wie sie heute ist. Vielleicht ist das Casting anderer Modenschauen falsch." Naja, ganz so divers, wie es hier dargestellt wird, sind Rousteings Models auch nicht. Sie alle entsprechen gängigen Schönheitsidealen, Nofreteten, die da den Laufsteg entlangstolzieren, auch die "Plus-Size"-Models haben hohe Wangenknochen, große Augen, eine weiche Silhouette, sie sind – unbestreitbar – wunderschön. Und das nicht auf diese selbstaffirmative Weise, auf die man sich morgens im Spiegel zuredet, sondern ganz platt normativ: schön.

Dass ein großer Teil der Looks in seiner Kollektion für Gaultier Neuinterpretationen der Klassiker sind, schmeckte nicht jedem. Zu nah seien sie am Original, bemängelten Gaultier-Fans auf Instagram, wo denn da der kreative Geist sei. Einige der Schöpfungen waren nahezu Kopien der originalen Vorlagen, beispielsweise die zu Kleidern umfunktionierten Jacketts, die an Gaultier-Sakko-Kleider von 2003 angelehnt waren. Ihnen hatte Rousteing Gaultier-Labels  eingenäht, die üblicherweise im Nacken der Jacke sitzen. Das schlichte, ungelabelte Jackett, das in Form des Kleides 2003 nur durch sein Design auf den Designer schließen ließ, trägt die Marke nun wortwörtlich auf der Brust. Es sind diese spielerischen Brüche, die den Unterschied zwischen Hommage und Kopie bedeuten.


Dagegen wirkte Rousteings Entschluss, das Gaultier-Kleid, das 1992 Madonnas Brüste freigelegt hatte, mit fleischfarbenen Brustpads gleich doppelt zu präsentieren – einmal auf dem Laufsteg und dann nochmal an der mit ihrer Tochter North West in der ersten Reihe neben Anna Wintour sitzenden Kim Kardashian – geradezu prüde. Rousteing selbst begründete die verdeckten Brüste damit, dass Körper heute, allem Anschein sexueller Befreiung zum Trotz, wieder vermehrt reguliert würden, vor allem in Bezug auf die Sichtbarkeit von Nippeln und die Einschränkung der Freiheit non-binärer Personen.

Er wolle damit betonen, dass Jean Paul Gaultier eben jene Prüderie überwunden hat, die heute von konservativen Kräften wiederbelebt wird. "Er war seiner Zeit bei freier Meinungsäußerung voraus. Heute reden wir über Non-Binarität und die Überwindung von Geschlecht. Wir sagen, dass ein Mann sich wie eine Frau, eine Frau sich wie ein Mann kleiden kann, sprechen über die Freiheit, sein zu können, wer du sein willst, ohne von der Gesellschaft verurteilt zu werden. Jean Paul hat das vor uns allen gemacht." Damit, so Rousteing, habe Gaultier auch ihm den Weg geebnet. Trotz aller Huldigung für den Älteren, ist das, was sich hier vollzieht, ein Zusammentreffen auf Augenhöhe, eine Mode gewordenen Hochzeit der Masterminds.

Eine Rose für den Meister

Dieses Gefühl bestärkte sich noch in dem Moment, als das 57-jährige Topmodel Kristen McMenamy mit seinen langen weiß-blonden Haaren in einem Brautkleid geistergleich über den Laufsteg auf den Modeschöpfer Gaultier zuschwebte und ihm im Namen Olivier Rousteings eine rote Rose überreichte. Dass sie direkt danach strauchelte und stürzte, tat dem Ereignis keinen Abbruch, wenn überhaupt brach es den Kitsch in all seiner Ernsthaftigkeit auf, der diese Königshuldigung umgab.

Von einem Balkon aus präsentierten sich die Models den Fashion-Jüngern auf der Straße, nachdem sie am geladenen Hofstaat vorbeigelaufen waren. Zwei Monitore, an der Außenfassade angebracht, übertrugen die Laufsteg-Looks live nach draußen. Am Ende zeigten sich auch die beiden Modedesigner Rousteing und Gaultier auf dem Balkon und nahmen wie ein frisch vermähltes Königspaar den Applaus der Menge entgegen.

Das Gros der Modewelt reagierte trotz der Kritik mangelnder Innovation positiv – wenn auch nicht überschwänglich – auf die Entwürfe, die auch Jean Paul Gaultier an dieser Stelle zum ersten Mal sah. Vielleicht ist der Mangel an Aufregung einer Fatigue für das Fantastische geschuldet. Denn fantastisch war Rousteings Beitrag für Gaultier auf jeden Fall, und auch das Abfeiern des Skandaldesigners, das dieser sich von der Kollaboration erhofft haben dürfte, ist aufgegangen. Süffisant selbstironisch durchbrach eine Soundcollage über Jean-Paul Gaultier als Enfant Terrible die Schau, darauf folgte ein Glitch-Loop: "Olivier Rousteing! Olivier Rousteing! Olivier Rousteing!"