"One of These Days"-Regisseur im Interview

Menschen, die ans Auto fassen

Mit einem Blick von außen schaut der deutsche Regisseur Bastian Günther auf die USA. Sein Film "One of these Days", der 2020 auf der Berlinale gezeigt wurde und nun in die deutschen Kinos kommt, zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der Existenzängste medial ausgeschlachtet werden und Menschen an ihre Grenzen gehen für das Versprechen absoluter Freiheit

"One of these days" spielt vor dem Hintergrund eines Hands-on-Wettbewerbs: Die Bewerber müssen permanent mindestens eine Hand an einen Pick-Up-Truck halten. Wer einmal loslässt, verliert. Der Gewinner erhält den Hauptpreis, das Auto. In den 1990er-Jahren gab es eine Dokumentation über einen solchen Wettbewerb, 2005 geriet ein anderer solcher Wettbewerb in die Schlagzeilen, als sich ein ausgeschiedener Teilnehmer erschossen hat. Bastian Günther, wie und wann sind Sie auf das Thema aufmerksam geworden, was hat sie an der Erzählung interessiert?

Bastian Günther: Meine Frau ist Amerikanerin, durch sie bin ich auf das Thema gestoßen. Der erstgenannte Wettbewerb fand damals in Texas statt, wir leben beide in Austin. Irgendwann sagte sie zu mir: "Schau' dir mal diesen Dokumentarfilm an, der ist gut, der erzählt viel über Amerika." Ich bin immer an Americana interessiert – nicht nur um zu schauen, was sie über das Land aussagt, sondern auch, was sie letztlich über uns alle aussagt. Der Film hat mir gefallen, er war witzig, ein wenig bizarr. Gleichzeitig hinterließ er bei mir einen merkwürdigen Nachgeschmack: Schon lustig, aber wo bleibt denn die kritische Perspektive? Schließlich basiert dieser Wettbewerb allein darauf, Menschen auszubeuten, die kein Geld haben, um sich selbst einen solchen Truck zu kaufen. Man nutzt sie als Entertainment. Für Leute, die mal eben vorbeifahren, eine Stunde zugucken, und sich dann wieder aufmachen in ihr schön klimatisiertes Eigenheim. Also wollte ich eine Geschichte aus dieser Perspektive erzählen. Der Menschen, die mitmachen. Nicht der, die zuschauen.

Wer ganz unbedarft ist, könnte das ja auch erst einmal für eine primär skurrile Angelegenheit halten. Sie scheinen gleich geahnt zu haben, dass in dieser Geschichte eine große Tragik liegt. Was es letztlich bedeutet, wenn Menschen tagelang um einen Truck herumstehen.

Dieser Wettbewerb, der ja so auf zehn, zwölf Quadratmetern stattfindet, der spiegelt ja im Grunde unser gesamtes System wieder, in dem wir alle uns befinden. Turbokapitalismus. Wer nicht mitschwimmen kann, hat Pech gehabt. Dieser Darwinismus, den wir uns selbst auferlegt haben und auch täglich praktizieren. Aus filmischer Sicht bietet die Ausgangssituation außerdem eine tolle Möglichkeit, mit Schauspielern zusammenzuarbeiten. So viele Menschen sind da über Tage auf einem Fleck, so dicht beieinander. Also habe ich weiter recherchiert. Als ich dann diese kleine Meldung über die Tragödie im Rahmen eines solchen Wettbewerbs gelesen habe, wusste ich: Das muss das Herzstück des Films werden. Es dauert immer eine Weile, bis ich anfange zu schreiben. Erstmal sammle ich, schreibe Notizbücher voll. Richtig angefangen habe ich so 2012. Die erste Fassung gab es 2016. Das Casting dauerte sehr lang. Angefangen zu drehen haben wir letztlich 2018. Es war ein langer Weg – man muss immer warten, bis das Geld da ist…

Trotz oder vielleicht eher wegen dieses sehr harten Themas erscheint der Film denn aber auch genuin amerikanisch in seiner ultimativ humanistischen Erzählweise. Die Figuren werden nicht vorgeführt, weder von der Regie, noch von den Schauspielern. Es gibt keine klassischen kapitalistischen Bösewichte, wie man sie vielleicht in einem deutschen Film inszenieren könnte: Carrie Preston sitzt nicht im Büro und freut sich diebisch auf die armen Tropfe, um sie ausbeuten zu können, sondern ist eine emphatische Person, sehr ambivalent gezeichnet, und ihrerseits alles andere als gut situiert. Alle handelnden Figuren erscheinen hier letztlich mitgehangen, mitgefangen.

Ja, absolut. Ich denke, man kann keinen Film aus einem solchen Blickwinkel drehen, wenn man sich selbst herausnimmt. Der Film selbst darf sich nicht über etwas erheben. Davon handeln meine Filme eigentlich generell: Nicht auf andere herabzuschauen, mich herauszunehmen oder etwas besser zu wissen. Was wir hier sehen, geht uns alle an. Wir sind ja alle verhaftet und involviert in diesen Wahnsinn. Der Film hätte nicht funktioniert, wenn es – wie ihr schon sagt – einen finsteren Antagonisten gegeben hätte, der in seinem Büro sitzt und das alles ausheckt. Dann wäre der Film nach 20 Minuten alt geworden. Ich gehe doch ins Kino, um ein bisschen was über uns zu erfahren. Etwas zu sehen, das mich vielleicht auch anstrengt. So ein Film soll nicht manipulieren oder vorschreiben, was man zu fühlen oder zu denken hat. Auch Musik und Schnitt sollen das Thema nicht in eine solche Richtung drängen. Ein Film muss offen bleiben.

1969 kam Sidney Pollacks Film "They shoot horses, don't they?" ("Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss") in die Kinos. Er handelte von einem Tanzwettbewerb in der Zeit der Great Depression, bei dem Menschen über Tage und mit nur wenigen Pausen zwischendurch regelrecht durchtanzen, bis sie erschöpft umfallen. Dem Gewinner winkt eine Geldsumme. Im Film aber erbittet sich die Protagonistin Gloria, gespielt von Jane Fonda, noch vor dem Ende des Wettbewerbs erfolgreich den "Gnadenschuss". Der Gewinn selbst bringt letztlich auch keine Befreiung mehr. Gewisse Parallelen sind da nicht von der Hand zu weisen.

Was der Film mit meinem gemeinsam hat, ist natürlich das Thema des Ausnutzens von Menschen, die bestimmte Dinge tun müssen, weil sie ökonomisch schlechter dastehen als andere. Auch hier gibt es ja Leute, die sich das in Ruhe anschauen, die Teilnehmer, die kaum noch tanzen können, im Delirium versuchen, sich mit letzter Kraft irgendwo anzulehnen. Auch der menschliche Zug der Schadenfreude tritt dort sehr gut hervor – das ist wohl leider etwas, das uns als Menschen verbindet. Deshalb funktionieren ja auch Reality-Formate so gut. Was in "One of these Days” aber ganz anders ist: Nach dem eigentlichen Drama gehen wir noch einmal zurück, es wird verträumter, wir erfahren noch einmal etwas über die Handelnden. Ich finde das Ende bei Pollack sehr hart und auch sehr gut. Es macht ein Statement, ganz klar. Gleichzeitig lässt es mich auch ein bisschen unschlüssig zurück. Aber für die Zeit, in der der Film entstanden ist, ist das natürlich ein ganz starkes Ende.

Fast ein moderner Südstaaten-Epos. Carrie Preston, eine Hauptdarstellerin in Ihrem Film, konnte es kaum glauben, dass Ihr Drehbuch von einem Deutschen geschrieben worden ist. Es fühle sich so authentisch "southern" an, sagte sie. Auch der Cast ist großartig, von den zahlreichen Nebenrollen bis zum Hauptdarsteller, Joe Cole, der ebenfalls wie ein waschechter Südstaatler klingt. Er ist aber Brite. Wie schnell hat er sich in seine Rolle eingefunden?

Joe ist tatsächlich der einzige Nicht-Amerikaner im Ensemble. Mir war es ja nicht nur wichtig, dass alle Figuren Amerikaner sind, sondern auch aus dem Süden der USA kommen. Es ist wirklich ein ganz eigenes Gefühl, hier im Süden zu sein. Der Slang, bestimmte Manierismen, eine geteilte Geschichte. Alle Nebendarsteller kommen aus der Region, Louisiana, Mississippi, Alabama, Georgia. Das war sehr wichtig für den Film. Irgendwann schlug mir unsere Casterin für die Hauptrolle dann Joe Cole vor. Was ich an ihm mag und was sehr gut zu dieser Figur passt: Er hat so etwas Kindliches, Unschuldiges, aber auch eine Aggression, etwas Gefährliches, das von null auf hundert umschwenken kann, die einem solche Angst macht. Genau so habe ich den Kyle eigentlich gesehen. Wir hatten eine professionelle Dialekt-Trainerin aus Los Angeles, die mit den ganz großen Hollywoodstars arbeitet. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Aber dann haben wir eine Sprechtrainerin aus New Orleans gefunden, wo auch gedreht wurde. Cole kam zwei Wochen vor Drehbeginn in die Stadt, er war noch voll in seinem britischen Englisch. Irgendwann fing er an, nur noch in diesem Südstaaten-Englisch zu sprechen. Ab da kam er bis zum Drehschluss gar nicht mehr aus seiner Rolle heraus. Und wir waren alle sehr erstaunt, als dann nach dem Dreh plötzlich wieder der Typ aus London auftauchte.

Was neben den Dialekten maßgeblich zur dichten Stimmung beiträgt, ist das Wetter. Man kann es förmlich spüren, diese schneidende Luft, den Regen, die Hitze.

Ich wollte, dass der Zuschauer spürt, was für eine Qual das ist. Es ist heiß und feucht, es gibt diese monsunartigen Regenschauer. Zehn Minuten denkst du, die Welt geht unter, und zehn Minuten später ist es wieder komplett heiß und trocken. Das macht es zwar manchmal schwer, zu drehen, man muss schnell reagieren. Die Nachtszenen haben wir mit Regenmaschinen gedreht. Aber am Tag, als plötzlich der Regen einbricht, das war echt. Das hatte ja fast etwas Biblisches, wie diese Wassermasse da herunterkommt.

Durch die enge Handlungsfläche hat der Film etwas von einem Kammerspiel. Allerdings wird sogar dort mehr agiert, herumgelaufen. Was macht es eigentlich mit Schauspielern, wenn sie den ganzen Tag vor der Kamera rumstehen müssen, also ihren Körper nicht wie gewohnt benutzen können?

Man limitiert natürlich den Film an sich, die Schauspieler haben nur begrenzten Raum. Aber dadurch, dass hier 19, 20 Leute gleichzeitig an diesem Truck stehen, passiert zugleich auch unglaublich viel. Du hast so viele Blickachsen, zwischen denen die Kamera hin- und herwechseln kann. Die Figuren ärgern sich gegenseitig, lachen, wischen sich Schweiß von der Stirn, schütteln den Kopf, es entstehen Freundschaften. Weil du relativ nah bist mit der Kamera, bekommst du alles mit. Das Ensemble hatte großen Spaß daran, mit diesen Begrenzungen zu arbeiten. Zum einen ist man also limitiert. Zum anderen ermöglicht gerade diese Gruppe ein richtiges Ping-Pong. Ein Andocken an den anderen. Wir hatten lange Drehtage, manchmal zehn, zwölf Stunden. Es war nicht ganz so streng wie beim echten Hands-on-Wettbewerb, aber insgesamt standen die Schauspieler schon lange Zeit jeden Tag am Auto. Dadurch haben sich ganz eigene Dynamiken ergeben. Auch der Schweiß ist also zum Teil echt.

Menschen, die tagelang um ein Auto herumstehen wecken schnell Assoziationen an Performancekunst. Es gab auch mal die "Pfahlsitzer" in der Performance "Church of Fear" von Christoph Schlingensief während der Venedig-Biennale 2003. Zumal ohnehin heute überall davon die Rede ist, dass wir alle unsere Rollen permanent performen. Können Sie mit der Analogie etwas anfangen oder ist der Vergleich ob des ökonomischen Gefälles zynisch?

Hmm, das ist für mich schon ein gewaltiger Unterschied. Die Menschen hier suchen sich das ja nicht aus. Ein Performancekünstler, eine Künstlerin, die für ein Kunstwerk herumsteht, oder auch Demonstranten, die sich an einen Baum ketten und dort ausharren, sind für mich etwas vollkommen anderes. Ich will gar nicht sagen, dass alle Protagonisten hier mitgemacht haben, weil sie das unbedingt mussten, weil sie unbedingt ein Auto brauchten – sowohl im Film als auch im Original-Wettbewerb damals. Es gibt sicher auch einige, die diese 15 Minuten Ruhm suchen. Die Lokalpresse ist vor Ort, das Publikum feuert sie an. Andere mögen vielleicht den Wettbewerb. Es gibt ja auch eine Figur im Film, die das dann – wie man später herausfindet – professionell macht. Die allermeisten aber, das glaube ich wirklich, sind nur dabei, weil es für sie die Hoffnung bietet, relativ schnell an so ein Auto zu kommen. Gerade in den ländlichen Gegenden hast du ohne Auto ein Riesenproblem. Du kannst ja nicht einmal zu deinem Job fahren. Hinzu kommt, dass man sich besonders hier im Süden sowieso sehr stark mit dem Auto identifiziert – insbesondere die Männer tun das (lacht).

Da wären wir bei noch einem ganz anderen Film, der beim Anschauen in den Sinn kommt: "Die Fahrraddiebe" von Vittoria di Sica von 1948. Dort ist es ein Fahrrad, hier der Truck, ohne den man gar nichts ist. In "One of these Days" gibt es eine Szene, in der der Protagonist im Rückblick zu Fuß herumläuft. Ein Sheriff kommt vorbeigefahren und fragt nur halb im Scherz, ob er denn auch keinen Unsinn im Schilde führe. Gerade in den ländlichen Regionen der USA, aber auch anderswo außerhalb Europas scheint es dieses große Misstrauen gegenüber Menschen zu geben, die einfach so in der Landschaft existieren.

Ja, das stimmt. Diese Szene ist sehr wichtig. Sie zeigt sofort, wie auf dich draufgeblickt wird, sobald du nicht funktionierst – in diesem Fall also lediglich, wenn du kein Auto hast. Zu Fuß unterwegs zu sein, ist sowieso sofort verdächtig. Das ist schon beängstigend.

Ganz zum Schluss wird es nach der eher dem filmischen Realismus verpflichteten Erzählung plötzlich fantastisch, und der Musiker Bill Callahan spricht zu uns – in Form des sagenumwobenen Autos. Dieser Moment verleiht dem Film eine metaphysische Ebene. Absurdität, Melancholie, aber auch Trost, all das kulminiert in diesem Augenblick.

Der Truck ist ja eine Projektionsfläche für alle Leute, die um ihn herumstehen, ganz besonders auch für den Protagonisten Kyle. Es gibt zwischendurch immer wieder POVs, Point of Views, aus dem Auto heraus, mit der Kamera durch die Windschutzscheibe. Wie ein Raubtier, das sich seine Beute anguckt. Ich wollte unbedingt, dass dieser Wagen anfängt, zu sprechen. Und er sollte die Stimme von Bill Callahan haben. Ich bin schon lange Liebhaber seiner Musik, er wohnt auch in Austin. Also schrieb ich ihm eines Abends eine E-Mail, und am nächsten Tag hat er schon geantwortet. Wir haben uns zum Kaffee getroffen, ihm gefiel die Idee und er war dabei. Dann musste er tatsächlich an unseren Drehort in Louisiana kommen. Mein Kameramann hat eine Maschine gebaut, deren Mikrokabel mit den Lichtern des Trucks verbunden war. So haben die Scheinwerfer genau zu seiner Sprache in Echtzeit geflackert. Der letzte Teil ist insgesamt ein bisschen schwebender. Diese Szenen haben ja tatsächlich keine Bedeutung für die Handlung, aber sie waren von Anfang an wichtig. Diese Wettbewerbe spielen ja mit dieser menschlichen Hoffnung: Ich will das Ding gewinnen. Und wenn ich es habe, dann wird alles anders werden. "Du verstehst es nicht, oder? Selbst, wenn du diesen Truck gewinnst, bleibst du der Idiot, der das Auto gewonnen hat." Das hat also etwas ganz real Trauriges, Bittersüßes. Jede dieser Figuren hat einen Grund, da zu sein. Auch wenn wir die meiste Zeit nur 20 T-Shirts sehen und uns am Wettbewerb ergötzen.