Zum Tod des großen Architekten Oscar Niemeyer

Glück in Stahlbeton

Als 1943 die Kirche São Francisco de Assis in Pampulha nach den Entwürfen Oscar Niemeyers fertig dastand, konnte der brasilianische Erzbischof von Belo Horizonte seinen Augen nicht trauen. Die geschwungene Architektur ragte wie eine große Welle aus dem Urwald hervor und entsprach keineswegs der herkömmlichen Bauweise einer Kirche. Auch die Abbildungen auf den blauen Fassadenkacheln erinnerten nicht an die traditionelle Darstellung von Heiligen. Vielleicht lag es daran, dass Oscar Niemeyer bekennender Kommunist war – der Bischof sah in der Form des Baus jedenfalls das Symbol von Hammer und Sichel. Eine Weihe war somit vorerst ausgeschlossen. Der Denkmalschutz konnte das futuristische Kunstwerk jedoch retten. Fünfzehn Jahre später fand schließlich ein erster Gottesdienst in dem Bau statt.

Auch wenn Niemeyers eigensinniger Stil oft nicht den konventionellen Vorstellungen entsprach, konnte er mit Formenvielfalt, Eleganz und mit der Ausdrucksstärke seiner Bauwerke schließlich überzeugen, sogar mitreißen, berauschen und zu einem Gefühl von Aufbruch und Fernweh verleiten. „Die Frau ist wichtig, der Rest ist ein Witz“, sagte der Architekt einmal in einem Interview. Für ihn besaßen seine Bauten „weibliche“ Züge: weiche Kurven, die sich an die Landschaft schmiegen und Leichtigkeit, die gen Himmel strebt. Der Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur schuf mehr als 600 Gebäude. Von der Erhabenheit der Natur regelrecht beschwipst, schätzte Niemeyer organische Formen und wollte vor allen Dingen eins: Vollkommenheit schaffen.

Brasília machte ihn berühmt

Der deutschstämmige Baukünstler wurde 1907 in Rio de Janeiro geboren. 1934 schloss er sein Studium an der Escola Nacional de Belas Artes ab und wurde zum Assistenten von Lúcio Costa. Zusammen mit dem brasilianischen Architekten entwarf er das Ministerium für Bildung und Gesundheit in Rio de Janeiro, und durch ihn lernte er Le Corbusier kennen, mit dem er den New Yorker UN-Palast gestaltete. Während Costa und Le Corbusier keine Verspieltheit duldeten, konnte sich Niemeyer durch die dekorativen Feinheiten, die seine Entwürfe charakterisierten, von den beiden Älteren abgrenzen. Niemeyer baute unter anderem in São Paulo und in Belo Horizonte, bis er 1956 Berater von Nova Cap wurde, der Organisation, die Brasiliens neue Hauptstadt Brasília plante. Schon ein Jahr später wurde er selbst leitender Architekt der Organisation. Die Gebäude, die er für die Hauptstadt, Brasiliens neue Hoffnung, schuf - etwa das Kongressgebäude, den Alvorado-Palast oder das Gebäude des Obersten Gerichtshofes - machten den Architekten berühmt. Seit 1987 gehört seine Stadt zum Weltkulturerbe.

Niemeyer war Zeit seines Lebens Marxist. Wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, ging er Mitte der 60er nach Frankreich ins Exil und kam erst nach Ende der brasilianischen Diktatur zurück in seine Heimat. Auch am Fluchtort entwarf er weiter, unter anderem das Gebäude für die Zentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs. „Die Kommunisten sind die Einzigen, die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen“, sagte er. Noch im hohen Alter ging er auf Demonstrationen, schuf ein Dutzend Mahnmale, etwa  „Memorial da América Latina“ in São Paulo, eine Hommage an Le Corbusier, doch die Wohnungsnot interessierte ihn wenig: Oscar Niemeyer schuf vor allem Häuser für Wohlhabende. Zweckbauten waren ihm zuwider, so lehnte er auch das Bauhaus vehement ab. Er liebte seine Freiheit in der Formgebung, beflügelnde Schwünge, kräftige Töne und architektonische Verrücktheiten. Als Material lobte er den Stahlbeton. Licht und viel Platz im Innenraum waren für ihn unverzichtbar.

Kunst, Alltag und Natur

Ein Freund des Architekten, Ubirajara Brito, meinte einmal, Oscar Niemeyer habe nie den einfachen Weg gewählt. Es stimmt: Seine Bauwerke waren immer neu, besonders, bahnbrechend – und sind es noch heute. So erinnert das Museumsgebäude, das der Brasilianer für die Stadt Niterói entwarf, an ein Ufo, das in nächster Zeit abheben wird, und das keilförmige Auditorium des Ibirapuera Parks begrüßt die Besucher am Eingang mit ausgestreckter Zunge. Seine Kunstwerke haben nicht an Glanz verloren. Oscar Niemeyer war ein Künstler, der in seinen Skulpturen Kunst, Alltag und Natur zu einer Einheit machte. Nach vielen anderen Auszeichnungen erhielt er 1988 den Pritzker-Preis, der als eine Nobelpreis für Architektur gilt.

Trotz seines hohen Alters war Niemeyer zuletzt unermüdlich. Mit über hundert Jahren fehlte er kaum einen Tag in seinem Büro an der Copacabana. 2011 wurde das Centro Niemeyer fertiggestellt, ein internationales Kulturzentrum im spanischen Avilés. Der Architekt hatte der Region Asturien den Entwurf 2006 im Alter von 98 Jahren geschenkt. Wenige Monate später musste das Zentrum seine Veranstaltungsbetrieb jedoch wieder einstellen. Grund waren politische Uneinigkeiten zwischen der Stiftung, die das Projekt realisierte, und der konservativen Regierung Asturiens.

"Das Leben ist ein Hauch"

An seinem 104. Geburtstag präsentierte der Architekt stolz die neue Ausgabe der Kultur-Zeitschrift "Nosso Caminho" ("Unser Weg"), herausgegeben von ihm und seiner zweiten Frau Vera Lúcia, die er 2006 heiratete. Der brillante Baukünstler liebte den Trubel – zwei Monate später fuhr er bei 37 Grad Hitze zu seiner 1984 erbauten Arena Sambódromo, um den Umbauarbeiten persönlich beizuwohnen. Seine Pläne wurden immer mutiger, ohne Verschnaufpause ließ er nie davon ab, Träume und Ideen zu verwirklichen. Seine Landsleute machten in den vergangenen Jahren liebevolle Witze: Niemeyer habe schon am Strand gestanden, als die portugiesischen Seefahrer 1500 an der Küste des späteren Brasiliens landeten, er war dabei, als Pedro I. 1822 die Unabhängigkeit des Landes erklärte - Niemeyer besitzt den Status eines Nationalhelden.

Als man den rastlosen Architekten jedoch nach seinem eigenen Leben fragte, sagte er: "Der einzelne Mensch ist nicht wichtig, er wird geboren und stirbt. Das Leben ist ein Hauch, nur ein kurzer Augenblick." Am Mittwoch ist Oscar Niemeyer im Alter von 105 Jahren gestorben.

Reaktionen auf Oscar Niemeyers Tod