Paula Modersohn-Becker ist in die Kunstgeschichte eingegangen: Vor allem als "Wegbereiterin der Moderne in Deutschland", die mit ihrer Formensprache laut Uwe M. Schneede "die Autonomisierung des Bildes" vorangetrieben hat – und sicher nicht, weil sie eine selbstbewusste Frau war. In der Ausstellung "Paula Modersohn-Becker und ihre Weggefährtinnen. Der ungeteilte Himmel" in Worpswede aber wird die Künstlerin laut Pressetext vor allem "als Ikone der Selbstbefreiung" gefeiert.
Als Kronzeuge für diese Behauptung dient dabei das "Selbstbildnis als stehender Akt" (1906), das in der Großen Kunstschau Worpswede gezeigt wird. Modersohn-Becker hat sich hier nackt in Lebensgröße gemalt, eine Perlenkette um den Hals, Früchte in den Händen haltend. Der Körper ist in eine einfache, wenn man so will "unrealistische" Form gebracht, die eben nicht mehr darstellen will.
Vielmehr wird das Motiv für den Versuch genutzt, dem Körper auf der Leinwand eine fast schon plastische Anmutung zu geben. Auch das als Maske gemalte Gesicht zeigt keine Spur eines individuellen, etwa "selbstbefreienden" Ausdrucks, sondern treibt ebenfalls die formale Abstraktion des Bildes voran.
Formal haben diese Bilder nichts miteinander zu tun
Dieses Gemälde wird dann aktualisierend von Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen ergänzt, so zum Beispiel von dem Bild "Zwischen Tür und Angel" (1998/1999) von Cornelia Schleime. Es zeigt eine keck das nackte Bein präsentierende Frau in einem kurzen Rock, die in einer offenen Tür steht. Die hier vorgestellte Referenz beschränkt sich, wie in den anderen heutigen Bildern auch, auf eine bloß inhaltliche Bezugnahme. Formal aber haben diese Bilder rein gar nichts mit der Arbeit von Modersohn-Becker zu tun. Im Gegenteil: Schleimes Porträt etwa weist genau die gegenständliche Formensprache auf, die das historische Vorbild hinter sich lassen wollte.
Zurück zum "Selbstbildnis als stehender Akt": Das überragende Gemälde hängt in der Großen Kunstschau in einem Raum unter dem Motto "Wer bin ich - als Mensch, Frau, Künstlerin?". Titel wie dieser, etwa auch "Unter Gleichgesinnten", "Künstlerin werden" oder "Wovon kann ich leben - Eigenständigkeit oder Ehe?", strukturieren alle vier Stationen der Ausstellung arg didaktisch.
Vor allem aber sorgen diese inhaltlichen Einordnungen dafür, dass die so präsentierten Werke die von den Kuratoren aufgestellten Statements illustrieren. Dies engt die Interpretation der Kunst ein und lenkt von den formalen Qualitäten der Arbeiten ab.
Modersohn-Becker als Teamplayerin?
Selbstverständlich aber sind in den vier Ausstellungen beeindruckende Gemälde von Paula Modersohn-Becker zu entdecken. Im Barkenhoff zum Beispiel das kleinformatige Bild "Moorgraben" (1900), das eine typische Worpsweder Landschaft zeigt.
Die Darstellung ist dabei so sehr auf das Wesentliche reduziert, dass der blaue Wassergraben zusammen mit dem grün-braunen Moor eine fast schon abstrakte Komposition ergeben - zehn Jahre vor Kandinskys erstem ungegenständlichen Aquarell. Und im Haus im Schluh überzeugt das Porträt "Kind mit Perlenkette" (1902). Es besticht durch seinen wohlkalkulierten Einsatz der Farben Grün, Blau und Weiß. Dieser teilt das Bild in drei Flächen ein, die nur noch der Logik des Bildaufbaus gehorchen, nicht aber einer naturalistischen Abbildung.
Im Barkenhoff wird zudem eine der im Titel verheißenen "Weggefährtinnen" vorgestellt, nämlich Clara Westhoff. Auch im Haus im Schluh kommt eine "Begleiterin" zu Wort, und zwar Martha Vogeler. In der Kunsthalle Worpswede schließlich ist es Ottilie Reylaender, deren Bilder zusammen mit denen von Modersohn-Becker gezeigt werden. So wird die Malerin als Teamplayerin inszeniert, die mit anderen Frauen einer Worpsweder Gruppe angehörte.
In Briefen betont sie ihre Einsamkeit
Diese Konzeption ist in dreierlei Hinsicht fragwürdig: Zum einen betont die Künstlerin in ihren Briefen und Tagebüchern immer wieder ihre Einsamkeit: "Vielleicht ist diese Einsamkeit gut für meine Kunst, vielleicht wachsen ihr in dieser ernsten Stille die Flügel".
Zudem distanziert sie sich von Gruppendynamiken: "Die Frauenemanzipation ist doch in diesem Rottenauftreten sehr unschön". Und Modersohn-Becker war auch insofern kein Teil eines Kollektivs, als das Werk ihrer "Weggefährtinnen" keineswegs den Weg hin zu einer autonomen Kunst ging und schlicht nicht die Qualität besitzt, die Modersohn-Beckers Arbeiten bis heute sehenswert macht.
Die Entdeckung der Ausstellung ist das 30 Minuten lange Video "آسمان تقسیمناپذیر Āsmān-e taqsim-nāpazir" (Farsi für "Der unteilbare Himmel") von Anahita Razmi. Neun Personen, Frauen und Männer, lesen darin von der deutsch-iranischen Künstlerin ausgesuchte Texte von Paula Modersohn-Becker sowie aktuelle Interviewauszüge zur Frauenbewegung im Iran.
Diese Fragmente treten in einen Dialog ein, der die Haltung der 1876 geborenen Künstlerin mit heutigen feministischen Diskursen aus "iranischer Sicht", also aus der Perspektive einer patriarchal-islamischen Republik, konfrontiert.
Reflexionsraum voller Widersprüche
Statements wie "Es ist gut, sich aus den Verhältnissen herauszulösen, die einem die Luft nehmen" (Modersohn-Becker) oder "Wenn ich Leuten erzähle, dass ich aus dem Iran komme, aber nicht religiös bin, dann sagen sie: dann bist du also westlich?" (Nasrin) eröffnen einen Reflexionsraum voller Widersprüche.
Auch Tagespolitisches kommt zur Sprache. Eine anonyme iranische Filmemacherin wird mit den Worten zitiert: "Es ist schwer zu übersehen, wie Deutschland derzeit von iranischen Dissidenten-Filmen besessen ist und sie ausbeutet, um seine Bestrebungen zu rechtfertigen, Konflikte im Nahen Osten anzuheizen, während es gleichzeitig palästinensische Stimmen unterdrückt". Dass Razmis Film trotz dieser kritischen Worte in Worpswede gezeigt wird, beweist heute, und das ist traurig, Mut.