Performancekünstler Ulay ist tot

"Zu Gast in dieser Welt"

Ulay hat auf der Suche nach der Identität Kunstgeschichte geschrieben. Mit seiner langjährigen Partnerin Marina Abramovic und ohne sie. Jetzt ist der nomadische Performancekünstler mit 76 Jahren gestorben

Er war ein Pionier der Performancekunst. Ein Künstler, der der Fotografie das Tanzen beibrachte. Ewiger Rebell. Er selbst hat immer weiter nach der Antwort auf die Frage gesucht, wer er sei – zuversichtlich, sie zu finden. "Ich könnte sagen, ich bin ein deutsches Kriegskind", antwortet er 2016 im Monopol-Interview. "Ich bin ein holländischer Entdecker, ein nicht sozialer Sozialist und ein nomadischer Autodidakt. Doch um der Antwort näher zu kommen, nach der ich suche, musst du all diese Dinge vergessen." Und dann: "Ich bin zu Gast. Zu Gast in dieser Welt." Wie seine Ateliermanagerin heute gegenüber Monopol bestätigte, ist Ulay in den frühen Morgenstunden am Montag im Alter von 76 Jahren gestorben.

Frank Uwe Laysiepen, wie Ulay mit bürgerlichem Namen hieß, wurde 1943 in einem Bunker in Solingen geboren, verlor mit 14 Jahren seinen Vater und erlebte den sozialen Rückzug seiner Mutter mit. 1969 packte Ulay seine Kamera und seine Schreibmaschine in den Kofferraum seines alten Citroën und fuhr seinem bürgerlichen Leben im deutschen Neuwied davon. Er verließ seine erste Frau und einen Sohn, um in Amsterdam in die Welt einzutauchen, die ihn zum Künstler machte. Zwischen 1968 und 1971 wurde er internationaler Berater für die Firma Polaroid, was ungehinderten Zugang zu fotografischem Equipment bedeutete.

Ulay schöpfte als einer der ersten Künstler das performative Potenzial der Instant-Fotografie aus. Diese Oberfläche, diese Unmittelbarkeit! "Es ist so gewesen": So formulierte es der französische Philosoph Roland Barthes. Ulays Bilder aber scheinen zu sagen: Es kann sich verändern. Er kombinierte Bartstoppeln und Lippenstift. Er arbeitete in Serien. Er schminkte sich sein Gesicht weiß, bis es fast verschwand. Er arbeitete mit seinem Blut. Er schrieb sich auf die Hand: "Je Prozess desto Zeit/ Und ich zu zweit". 

Amsterdam in den frühen 70er-Jahren, das waren Schlagzeilen voller Hausbesetzer, Drogendealer und Protestler. Ulay fotografierte auf der Straße Transvestiten, Randfiguren, Abhängige, Obdachlose. Eine Galerie, die später als De Appel bekannt werden sollte, wollte die Bilder ausstellen. Er zögerte, dann sagte er sich: na gut. Die Ausstellung war ein Desaster. "Die Öffentlichkeit stand zu dieser Zeit auf spätmoderne Malerei, sie hatte Sehnsucht nach etwas Schönem, nach etwas, das die Welt heilen könnte", so Ulay im Monopol-Interview. Er aber zeigte die Narben der Zeit. Das Urteil des Publikums war hart: Die Arbeiten seien "völlig unpassend". Danach schwor er sich, seine Kunst nie wieder in einer Ausstellung zu zeigen. Schon diese erste hieß: "The Artist Is Present".

Ende 2020 sollte Ulays künstlerisches Amsterdam-Trauma mit einer großen Solo-Ausstellung im Stedelijk-Museum gemildert werden. Die Schau, die vom neuen Direktor Rein Wolf kuratiert wird, muss ab November nun posthum stattfinden.

Kunstdiebstahl als Aktionskunst

Ulay lernte Marina Abramović 1975 nach einer Performance in Amsterdam kennen. Sie hatte sich dabei verletzt. Er pflegte ihre Wunden. Sie fotografierte wenig später eine seiner bekanntesten Aktionen: "There Is a Criminal Touch to Art – Corresponding to a Situation". Als Ulay am 12. Dezember 1976 die Neue Nationalgalerie in Berlin betrat, trug er in der Tasche seines Kleppermantels eine Kneifzange. Es war ein trister Berliner Winter, die Straßen leer. Er ging die Treppe hinunter zu den alten Meistern, stellte sich vor Carl Spitzwegs Gemälde "Der arme Poet" (ein Lieblingsbild von Adolf Hitler) und schaute sich um. Dann kappte er die Aufhängung. "Ich klemmte das Bild unter den Arm, rannte durch den Notausgang hinaus, die Museumsaufseher hinterher, in mein Auto, das ich hinter dem Gebäude abgestellt hatte, der Motor lief noch." 

Ulay fuhr nach Kreuzberg zum Künstlerhaus Bethanien und dann weiter zu einer Adresse in der Muskauer Straße. Dort wohnte eine türkische Migrantenfamilie. Eine Mutter mit drei Kindern öffnete ihm, er ging ins Wohnzimmer und hängte das Gemälde von Carl Spitzweg an die Wand. Dann rief er den Direktor der Neuen Nationalgalerie an, er könne sich das Bild anschauen kommen.

Zwölf Jahre arbeiteten Abramović und Ulay zusammen, diese ungleichen Zwillinge, die Performances machten, bevor der Begriff im deutschen Sprachraum überhaupt existierte. Man kann sie immer noch spüren, die Energie des Bogens. Ulay hielt ihn gespannt, vier Minuten lang. Der Pfeil zielte während der gemeinsamen Performance auf ihr Herz. Keiner hat nach ihnen den Körper in der Kunst so kompromisslos als Medium eingesetzt wie dieses Paar in ihrem "Relation Work".

Ulay war mehr als ein Sidekick 

Dass die Kunstwelt ihren Blick vor allem auf die "Grande Diva" richtet, ist nicht fair, aber erklärbar. Im Gegensatz zu Ulay wollte Abramović eine Signatur. Also öffnete sie sich nach ihrer Trennung 1988 der theatralen Form der Performancekunst. Inszenierte sich auf dem Cover der "Vogue", veranstaltete Reenactments ihrer Performances, umgab sich mit Persönlichkeiten, deren Namen oft auf Gästelisten stehen.

Marina Abramović sagte einst: "Es braucht lange Zeit, vielleicht ein ganzes Leben, um Ulay zu verstehen." Ihr Abschied fand laut Ulay schon lange vor ihrer rituellen Trennung statt, bei der sie auf der Chinesischen Mauer drei Monate lang aufeinander zuliefen ("The Lovers", 1988). Er startete im Westen, sie im Osten. 15 Monate später wurde seine Tochter Luna geboren, die Mutter war seine chinesische Dolmetscherin Ding Xiao Song.

Performances wollte er keine mehr machen. "Ich bin nicht alt genug", antwortete er jedem, der ihn fragte warum. In gewisser Weise brachte ihn Abramović dazu, es doch wieder zu tun. Die Gründe sind jedoch weniger romantisch als ihr Zusammentreffen während Abramovićs Marathon-Performance im MoMA. Sie hatte sich zweieinhalb Monate lang Tag für Tag auf einen Stuhl gesetzt, um insgesamt 1565 Besuchern in die Augen zu schauen, still, der Körper unbewegt. Und dann saß ihr plötzlich Ulay gegenüber. Sie hatte Tränen in den Augen, nahm seine Hände. Ein intimer Moment. Über 17 Millionen Menschen haben ihn auf YouTube gesehen.


Fünf Jahre später verklagt er sie. In Interviews sagte er: "Sie gönnt mir nichts", sie sei konkurrenzdenkend, spiele "ihre Rolle gut". Was war passiert? 1999 hatte sich Abramović vertraglich mit Ulay über die Verwendungsrechte der gemeinsamen Arbeiten geeinigt. Sie erhielt einen Großteil der Rechte, er eine Abfindung. 2014 erschien Ulays Monografie "Whispers: Ulay on Ulay" mit 736 Abbildungen. Doch auf 28 davon ist nichts zu sehen. Abramović hatte ihm die Verwendung dieser Bilder von gemeinsamen Arbeiten untersagt. Also ersetzte Ulay ihren Platz durch rosa Rechtecke. Er beklagte zudem, dass er bei einigen Gemeinschaftswerken nicht namentlich genannt und nicht über Verkäufe informiert worden sei. Kurz: Er warf ihr vor, sie wolle ihn aus der Kunstgeschichte schreiben. 2016 entschied ein Gericht in Amsterdam zugunsten von Ulay, Abramović musste 300.000 Euro an ihn für die Verwertung der gemeinsamen Arbeiten zahlen.

2017 versöhnte er sich mit Abramović. Vor vier Jahren zeigte die Frankfurter Schirn dann eine große Retrospektive seiner Werke, er rückte endlich in den Fokus der Öffentlichkeit. Seine eigenen Performances gingen unterdessen weiter, trotz einer Krebsdiagnose 2012. Auch das Künstlerleben hatte Spuren auf seinem Körper hinterlassen. Kleine Narben, Zeichen performativer Selbstverletzungen. "Viele Leute dachten, es gehe um Schmerz. Darum ging es nie. Eine unserer Regeln war: Drücke nie Schmerz aus. In dem Moment, in dem du das tust, musst du aufhören, weil es pathetisch wird. Und ich verabscheue Pathos", sagte er im Monopol-Interview. 

In den letzten 44 Jahren lebte er immer wieder in Amsterdam, reiste unter anderem durch die USA, Australien und Japan, unterrichtete auf der griechischen Insel Hydra, studierte in Indien Meditation, diskutierte mit jungen Künstlern in Jerusalem, lebte in seinem Van. "Ich würde nie einen Länderpavillon der Venedig-Biennale bespielen, die Kunst sollte diese Art von Nationalismus überwinden", fand Ulay. Zuletzt wohnte er in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, dort hatte er 2009 seine Frau Lena Pislak kennengelernt und fühlte sich endlich irgendwo zu Hause. Sie habe oft den Eindruck, dass Ulay mehr als ein Leben geführt hat, sagt Lena Pislak.

Im Winter 1974 erhielten einige Freunde von Ulay zu Weihnachten eine Todesanzeige. Darauf stand: "Mein Abschied als einzige Person." Jetzt heißt es, tatsächlich Abschied zu nehmen.