Zwei Mädchen, beide acht Jahre alt, haben im Wald ein Baumhaus gebaut. "Ich muss dir ein Geheimnis verraten", sagt Nelly, "du musst versprechen, es mir zu glauben". Marion gibt Nelly ihr Wort, dann erklärt das Kind dem Kind: Nelly ist Marions Tochter.
"Petite Maman" erzählt von einer Zeitreise ohne Zeitmaschine. "Science-Fiction“ würde für den Film nicht im Entferntesten passen, eher ist es ein magischer Realismus, mit dem Céline Sciamma (Drehbuch und Regie) ihre auf leise Art eindringliche Geschichte erzählt. Es gibt keine Sprünge in der Zeit, nur gleitende Übergänge zwischen Marions und Nellys Realität, die für ein paar Tage im Herbst zu ihrer gemeinsamen Wirklichkeit verschmelzen. Neben den wunderschönen Herbstbildern der Kamerafrau Claire Mathon und dem intensiven Spiel der Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz ist es die unauffällige Konstruktion, die "Petite Maman" zum stillen Ereignis dieses merkwürdigen Berlinale-Wettbewerbs werden lässt.
Die Schauplätze sind sozusagen aus der Zeit gefallen, das macht die Geschichte plausibel: Ein Waldgebiet, daran angrenzend das alte Haus der jüngst verstorbenen Großmutter, in dem die Zeit stehen geblieben scheint. So kann Nelly, wenn sie sich zwischen Bäumen mit Marion getroffen hat, in dieselben Räume zurückkehren, aber doch in einer andere Zeitzone gehen. Auf diese Weise kann auch die gleichaltrige Marion einen Vorgeschmack auf die Zukunft bekommen: Was für Musik hört man eigentlich 2020? Wird immer noch Kindergeburtstag mit Kerzen auf dem Kuchen gefeiert?
Das letzte "Adieu"
Wirklich beglaubigt wird die Story vor allem durch die innere Motivation der Hauptfigur: Nelly leidet darunter, dass ihre Mutter Marion (als Erwachsene: Nina Meurisse) zuwenig für sie da ist. Das Kind fühlt sich verantwortlich für die Melancholie der Mutter, zugleich möchte Nelly mehr über Marion wissen, als diese von sich preisgibt.
"Petite Maman" beginnt in dem Altenheim, in dem Nellys Großmutter gerade gestorben ist. Das Mädchen sagt "Adieu" zu den alten Damen, die sie nicht wiedersehen wird. Von ihrer Oma kann sie sich nicht verabschieden. So sei das, wenn jemand stirbt, sagt Nellys Mutter, das letzte "Adieu" ist kein angemessenes gewesen. Man dachte ja, man sieht sich wieder. Immerhin den Gehstock der Oma kann Nelly behalten, an dessen Griff noch der Geruch ihrer Hand hängt. Marion sitzt anfangs auf dem Sterbebett ihrer Mutter, ihr Blick verliert sich in der Herbstlandschaft vor dem Fenster. Der Tod lässt die Enddreißigerin zunächst verstummen. Kindern trauern anders, sie leben ihre Gefühle, gehen durch sie hindurch wie durch einen Wald, auch davon erzählt der Film.
Nach "Porträt einer jungen Frau in Flammen" (2019), der Liebesgeschichte einer Malerin und ihres adeligen Modells im 18. Jahrhundert, ist Céline Sciamma mit ihrem vierten Spielfilm "Petite Maman" wieder ein großer Wurf gelungen. Am dritten Tag des Wettbewerbs, an dem das breite Publikum vorerst nicht teilnehmen kann, wäre es noch zu früh, über Preise zu spekulieren. Dennoch nähme es Wunder, wenn Sciammas Elegie ganz leer ausginge.
Filme, die das Vergangene ins Heute bringen
Großmutter, Mutter und Tochter, die Fragen der Jungen und das Schweigen der Älteren, dazu zwei Zeitebenen, die eine Generation auseinanderliegen: Diese Konstellation findet sich auch im sehenswerten Wettbewerbsbeitrag "Memory Box" von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Hier wird in Rückblenden zurückgesprungen – vom heutigen Montreal ins Beirut der 1980er, das im Bürgerkrieg zerfällt. Die "Memory Box" ist hier eine Kiste mit alten Tonbandkassetten, Schreibheften und Fotos aus dem Libanon, eine Botschaft der Jugendlichen aus Beirut an ihr älteres Selbst.
Eine Kiste mit Heften und Fotos, ein fast noch handwarmer Gehstock, ein Haus am Waldrand voller alter Geheimnisse, überhaupt: Filme, die das Vergangene ins Heute bringen (da wäre noch Dénes Nagys düster-lakonisches Kriegsdrama "Natural Light" zu nennen): Was für Geschenke an die Gegenwart!