Philosophen, ahoi! Charles Avery legt in Hannover die höchsten Maßstäbe an

Diese Insel ist ein vom Meer umspülter Widerspruch. Sie hat keinen Namen, obwohl sie Touristenscharen anzieht. Ein Hort der Metaphysik und Banalitätenkabinett in einem. Charles Avery, geboren 1973, scheint die von ihm geschaffene Welt, die seit 2005 Gestalt annimmt, nicht so ganz im Griff zu haben. Averys Utopia-Dystopia erscheint kapriziös, zieht sich sogar selbst in Zweifel. Und gerade das fasziniert an der Schöpfung des mehrfachen Venedig-Biennale- Teilnehmers. Mit dem Solo im Kunstverein Hannover gibt der Schotte seinen institutionellen Einstand in Deutschland.
Den Inseltraum beschreibt Avery in wunderlichen Texten, zeigt Bewohner als Skulpturen und „beweist“ die Existenz des Orts anhand paradoxer Objekte, zum Beispiel der ausgestopften „Einhändigen Schlange“. Vor allem zeichnet der Künstler den Alltag. Virtuos: seine fünf Meter breite Anlegestelle der Hauptstadt Onomatopoeia – soeben hat der Dampfer „Utility“ (Nützlichkeit) geankert, auf dem Pier mischen sich Urlauber und Einwohner, Handel wird getrieben. Nach Averys 2008 veröffentlichtem Buch „The Islanders: An Introduction“ wirkt das kürzlich entstandene Hafenbild wie eine nachgeholte Ouvertüre, reduziert allerdings auf die Touristenperspektive.
Zudem verstellen Gebäude wie das einer Handelsgesellschaft den Blick aufs Hinterland. Eine Anspielung auf das Doppelgesicht des Kunstbetriebs: Es gibt marktkonforme Oberflächen und (manchmal) einen Gehalt dahinter. Phänomen gegen Idee, das ist auch ein Grundlagenstreit in der Philosophie, die die Hauptrolle in Averys work in progress spielt. Eine Weltkarte, die etwa ein „Meer der Klarheit“ und den Kontinent „Ultimative Realität“ verzeichnet, beruht auf dem absurden Unterfangen, das Denken und die Geistesgeschichte zu kartografieren. Sie steht am Anfang der Ausstellung, deren Raumfolge einem allmählichen Vordringen zum Inselinneren entspricht.
Auf der Grenze zwischen Erhabenem und Lächerlichem siedelt ein Dutzend Porträtbüsten von Denkern mit Hüten. Die Skulpturen, für die Charles Avery Gesichter seiner Freunde abgegossen hat, sind in einem Saal versammelt; der „Solipsist“, der in sich Zurückgezogene, mit seinem riesigen Stachelhelm wurde logischerweise in einen anderen Saal ausgelagert. Der „Logische Positivist“ trägt eine pinkfarbene Haube, der „Empiriker“ ein abstraktes Raster auf dem Kopf.
Was im Herzen der Insel geschieht, erzählt vor allem die Prosa. Da verstummen die Bilder, nur noch großflächige Aquarelle mit Wiesen und Gewölk. Auf einer Ebene jenseits von Onomatopoeia wird ein Ungeheuer gejagt, das noch niemand gesehen hat. In Anspielung auf Immanuel Kants „Ding an sich“, die reine Idee, heißt das Monster Noumenon. Auf der Pirsch führt ein „Angeberhase“ in die Irre, dazu droht sich der Jäger auf den Feldern der Metaphysik selbst zu vergessen.
Charles Averys Welt fesselt als unerhörter Spagat zwischen Fantasy, witziger Zeitkritik und geistesgeschichtlichem Kanon. Für einen Besuch empfiehlt sich „interesseloses Wohlgefallen“ nach Kant. Passagiere der „Nützlichkeit“ könnten auf dem falschen Dampfer sein.

Kunstverein Hannover, bis 7. November