Pissarro im Museum Barberini

Anwalt der Landarbeiter

Geboren auf Saint Thomas, geprägt von Corot, gestählt im Paris der Umbrüche: Camille Pissarro war alles andere als ein typischer Impressionist. Das Potsdamer Museum Barberini erzählt seine Geschichte – in über 100 Bildern

Als Camille Pissarro 1855 nach Paris übersiedelt, kommt er in turbulente Zeiten. Wenige Jahre erst ist die Revolution vorüber, die den Neffen des großen Napoleon an die Macht getragen hat, erst als Staatspräsident, nun bereits als selbsternannter Kaiser unter dem Namen Napoleon III. Der Ausruf des 1848 gestürzten "Bürgerkönigs" Louis-Philippe, "Bereichert euch!", hallte unvermindert nach. Die Bourgeoisie bereichert sich, Finanzspekulationen gibt es zuhauf, aber auch Fabriken entstehen, die Industrie wächst und erobert das Weichbild der Metropole.

Dahinein kommt Pissarro, geboren 1830 in denkbar weitester Entfernung, auf der Insel Saint Thomas in der Karibik, die damals unter dänischer Kolonialherrschaft steht. Er ist das Kind sephardischer Juden, die in der Neuen Welt als Kaufleute leben. Der Junge aber will nicht, wie vorgesehen, in den elterlichen Betrieb eintreten, sondern Künstler werden; und wo ginge das besser als in Paris mit seiner Akademie, seinem Salon und dem enormen Markt.

Bis dahin ist es ein weiter Weg. Bereits in der Karibik hatte Pissarro erste Schritte zum Künstlerberuf getan. Was er in den Jahren um 1850 geschaffen hat, ist hierzulande erstmals zu sehen in der Ausstellung des Museums Barberini in Potsdam, die unter dem Obertitel "Mit offenem Blick" den Maler Camille Pissarro vorstellt, der doch bekannt ist als einer der Vorkämpfer des Impressionismus – vor allem als Organisator der Gruppenausstellungen ab 1874, für die die Bezeichnung "Impressionismus" geprägt und bald durchgängig verwendet wurde.

Pissarro ist niemals dogmatisch

Impressionist ist Pissarro also nicht von Anfang an; in Paris sucht er das Vorbild vor allem von Camille Corot, dem erfolgreichen Haupt der als "Schule von Barbizon" bekannten Landschaftsmaler. Corot selbst malt in einem milden, atmosphärischen Realismus, und man kann seinen Einfluss im ganzen Werk des eine Generation jüngeren Pissarro nachverfolgen – weniger in der Malweise als in der Wirklichkeitsauffassung. Pissarro selbst, das zeigt die vorzügliche Ausstellung im Barberini, ist niemals dogmatisch, sondern wandelt seinen Stil mehrfach im Laufe seines langen Künstlerlebens. Er stirbt 1903 nach einem halben Jahrhundert weniger in als vielmehr um Paris herum, denn er sucht wechselnde Orte in der etwas weiteren, seinerzeit meist schon mit der Eisenbahn erreichbaren Umgebung.

An der maßstabsetzenden und erfolgsgarantierenden Académie des Beaux-Arts hat Pissarro nie studiert, obwohl der Vater es ihm finanzieren wollte; der Junge sah seinen Weg von Anfang an nicht in der regelkonformen Salonmalerei. Pissarro ist derjenige, an dem die Unterscheidung von Realismus und Impressionismus nahezu obsolet wird, denn realistisch ist seine Wahrnehmung der Wirklichkeit und der Blick für die sozialen Realitäten seiner Zeit. Impressionistisch ist die Malweise, das Hintupfen und -streichen der Farbe, das flirrende Licht – auch, und das ist bei ihm kein Widerspruch –, wenn die Sonne nicht scheint, der Himmel grau ist oder Raureif auf den Feldern liegt.

Pissarro lebt sozusagen auf dem Lande, daher sind Felder, Dörfer, bäuerlicher Alltag seine Themen. Erst spät im Leben wendet er sich der Metropole zu, dann aber gleich in Serien, wie er sie in hohem Alter bevorzugt – bisweilen Dutzende Bilder von einem oder zumindest ähnlichen Sujets. Diese Paris-Ansichten haben ihn erst so richtig populär gemacht. Er malt den Pont-Neuf und die Seine, er malt die belebten Boulevards des Haussmann’schen Stadtumbaus, dazu die Durchblicke hin zur Oper, diesem Prestigebau des Kaiserreichs, der jedoch erst nach dessen Ende fertig wurde.

Diese politischen Umbrüche finden sich in Pissarros Werk nicht wieder – anders als etwa bei dem kaum jüngeren Manet –, wohl aber die sozialen Verhältnisse. Denn Pissarro malt Bürgerliche und Arbeiter, die sich die neuen Straßen teilen, in gleicher Weise, objektiv wie eine Kamera; und vielleicht nicht zufällig fand die allererste der später so berühmten Impressionistenausstellungen 1874 im weitläufigen Atelier des Fotografen Nadar statt.

Er malte die Welt, wie sie ist

Pissarro liest bereits 1865 die Schriften des Frühsozialisten Proudhon, vor allem aber "Die Eroberung des Brotes" des Anarchisten Pjotr Kropotkin, die 1892 zuerst in Zeitungsfortsetzungen erscheint. Kropotkin beeindruckt ihn tief. Pissarro steht auf der Seite der sozialen Gerechtigkeit, die er besonders für die Landarbeiter einfordert. Für sie – und vor allem die Frauen, die die harte Arbeit etwa der Heuernte bewältigen – hat er eher einen Blick als für die Beschäftigten der Industrie. Deren qualmende Schornsteine bildet er selbstverständlich im Hintergrund seiner Gemälde ab, bewahrt aber zu den Fabriken räumliche Distanz.

Ganz nahe kommt er der alltäglichen Arbeit auch in den Häfen: in Le Havre, wo er selbst 1855 aus der Karibik ankam, in Rouen, dem Mündungshafen der Seine, und im beschaulichen Fischereihafen Dieppe, dem er eine 21 Bilder umfassende Serie widmet. Der Pissarro, der der Nachwelt am geläufigsten ist, ist der des reifen Alters ab etwa 1880, als der Impressionismus bereits abgelöst war von anderen, wissenschaftlich fundierten Verfahren wie dem Pointillismus, den Pissarro selbst eine Zeit lang für sich erprobt. Ansonsten aber bleibt er bei der lockeren Malweise, auch wenn die meisten Bilder nunmehr im Atelier entstehen, das er aufgrund einer sich verschlimmernden Augenkrankheit nicht mehr zum Malen verlässt. Er stirbt Ende 1903, drei Jahre vor dem etwas jüngeren Paul Cézanne, und kaum ein größerer künstlerischer Gegensatz ist denkbar als zwischen diesen beiden Zeitgenossen.

Über 100 Werke zeigt das Barberini, ausgeliehen bei über 50 Museen und Sammlungen, was allein die Potenz dieses Potsdamer Privatmuseums zeigt. Sieben Bilder zählen zum eigenen Bestand, wie auch sieben zu dem des Kooperationspartners, des Kunstmuseums im amerikanischen Denver. Dorthin wandert die Ausstellung im Herbst. So lange ist Gelegenheit, einen der bedeutendsten Impressionisten kennenzulernen, der doch bei genauem Hinsehen kein typischer Impressionist war – sondern ein Künstler, der die Welt sah und malte, wie sie ist.