Fotograf Lindbergh im Kino

Plötzlich Feminist

In seiner Dokumentation will Jean-Michel Vecchiet den Modefotografen Peter Lindbergh am liebsten zum #MeToo-Vorkämpfer stilisieren. Manchmal muss man Machismo aber auch einfach so stehen lassen 

Der Mistral rüttelt an den Bäumen und Sträuchern von Arles. In der Dokumentation über den Fotografen Peter Lindbergh wird Französisch oder Englisch gesprochen, doch jetzt, während braunstichige Südfrankreich-Bilder vorüberflimmern, spricht jemand Deutsch: "Nirgends fühle ich mich so fremd wie inmitten meiner Familie", sagt ein junger Mann und: "Land und Heimat sind überall".

Ein Mann auf der Suche, vielleicht auf der Flucht, das war wohl auch der Deutsche Peter Brodbeck 1961, der sich später Peter Lindbergh nannte. Erst im Nachspann erfährt man, dass nicht seine Tagebuchnotizen zu hören sind, sondern ins Deutsche übersetzte Briefäußerungen Vincent van Goghs an dessen Bruder Theo. Van Gogh war und ist Lindberghs Idol. Neben Paris und New York hat der weltberühmte Fotograf auch einen Wohnsitz in Arles, dorthin trampte er als 18-Jähriger.

Seine Identifikation mit dem Maler mag tief gewesen sein. Wenn in einer Dokumentation die Stimmen zweier unterschiedlicher Persönlichkeiten zu einer verschmelzen, ohne dass dieser Kunstgriff transparent gemacht wird, wirkt das allerdings arg manipulativ. Soll da eine Figur, Lindbergh, größer gemacht werden, als sie ist? An Lindberghs Bedeutung zweifelt der Filmemacher allerdings nicht: Jean-Michel Vecchiet, der Autor des Films "Peter Lindbergh – Women’s Stories" vergleicht sich selbst mit dem US-Fotografen Hans Namuth, der um 1950 Jackson Pollock fotografierte. In Lindbergh, so Vecchiet, habe er "seinen Pollock" gefunden. Ende der 80er habe er ihn kennengelernt – als Tina Turner für die Kamera des Meisters auf den Eiffelturm kletterte.

Eher Akteur als Grübler 

Vecchiet, der zuvor Filmporträts über Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat gedreht hat, gibt im Intro seiner neuen Dokumentation zu, dass er Lindbergh kaum Persönliches entlocken konnte. Der Mann guckt ungern zurück. Er stellt auf das scharf, was sich im Jetzt ereignet – und hat zugleich zukünftige Projekte fest im Blick. So erleben wir Lindbergh in den dokumentarischen Aufnahmen: als emsigen Akteur, kaum nachdenklich, nie als Grübler. Ein legendäres Shooting nach dem anderen reiht sich bei Vecchiet wie Perlen an eine endlose Erfolgskette. Zu den vielen "Women’s Stories" zählt natürlich auch das legendäre Shooting, bei dem Lindbergh für ein britisches 1990er-Vogue-Cover Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Cindy Crawford, Christy Turlington zusammentrommelte: die Geburtsstunde des Supermodel-Phänomens.

Seine große Karriere begann in Paris, Ende der 70er, als er für die "Vogue" zu fotografieren begann – und dann für "The New Yorker", "Vanity Fair" oder "Rolling Stone". Weniger geläufig sind Lindberghs Anfänge in der bildenden Kunst. An der Kunsthochschule in Krefeld, wo er studierte, lernte er seine spätere Frau Astrid kennen. Seine Bilder signierte er zeitweise mit "Sultan". Zu Protokoll gegeben werden dessen Faible für Künstler wie Joseph Beuys, Hermann Nitsch und Otto Mühl und sein nicht allzu weit gespannter Kunstbegriff; O-Ton Lindbergh: "I think art started with van Gogh and Picasso. Forget everything else." Was "Sultan" in der Kunstszene lernte, spiegelt das fotografische Werk wider, wie Vecchiet mit flankierenden Bildern belegt: Die Protestkultur der späten 60er kehrt bei einem Pariser Shooting von 2012 zurück, bei dem schöne Frauen Schilder mit Aufschriften wie "Lack of charisma can be fatal“ tragen. Lindberghs Vorliebe für Holzstühle als Requisiten leitet sich angeblich von seinem Hang zur Konzeptkunst ab, speziell Joseph Kosuths Inkunabel "One and Three Chairs“ soll da maßgeblich gewesen sein. Gut möglich. Aber wie schmeichelhaft ist es wirklich, ein fotografisches Werk als Schwundstufe künstlerischer Ideen zu demaskieren?

Der Filmemacher sucht die großen Antworten

Doch Vecchiet hat sich in die Aufgabe verbissen, Grundsätzliches zu klären. Der Filmemacher sucht Antworten auf die Frage, die – der am Filmanfang zitierte – Charles Baudelaire nur rhetorisch stellte: "Kommst du aus dem tiefen Himmel oder kommst du aus dem Abgrund, O Schönheit! Dein Blick, höllisch und göttlich.“ Hier kommen die "Women’s Stories" der Wegbegleiterinnen des Fotografen ins Spiel, seine Schwester, seine Ehefrau und andere. Hinweise auf biografische Quellen des Lindbergh-Stils werden schon früh eingestreut – die offensichtlichen zuerst. Lindbergh wuchs im Ruhrpott auf, später inszenierte er Models in Industriearchitektur oder vor Kohlehalden.

Aber woher kommt Lindberghs Faible für Katastrophenfilm-Szenarien, für Invasionen und Aliens? "I just do it", lautete die Antwort des Fotografen, die Vecchiet unbefriedigt ließ. Der Filmemacher erklärt die narrativen Hintergründe der Shootings anders – und spart sich die spektakuläre Enthüllung bis zum Ende auf. Lindberghs Familiengeschichte hängt mit Zwangsgermanisierung und Holocaust im bis 1945 besetzten Polen zusammen. Die Familie Brodbeck war nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen nach Leszno umgesiedelt. Im November 1944 wurde Peter dort, im damals so genannten Warthegau geboren, im Winter floh die Familie vor der vorrückenden Roten Armee in den Westen. Die ältere Schwester des Fotografen schildert, wie das Baby auf der Flucht über Dresden bis ins Allgäu fast ums Leben kam. Eine eindrucksvolle Episode, an die Vecchiet noch das Nachkriegsschicksal der Mutter – noch eine "Woman’s Story" – anhängen muss, die gerne Opernsängerin geworden wäre und angeblich auch die Stimme dafür gehabt hätte.

Lindberghs Karriere ist nun mal eine Männergeschichte

Vecchiets Beharren auf weiblichen Perspektiven wirkt nicht erst hier etwas bemüht. Nicht jedes Thema lässt sich #Metoo-gerecht aufbereiten. Mitunter muss man Altherrenstil und Machismo auch mal als das stehen lassen, was sie sind. Lindberghs Karriere ist nun mal eine Männergeschichte, in denen weniger Protagonistinnen das Sagen haben, als man es sich vielleicht wünscht. Dass der Fotograf Models zu Filmschauspielerinnen gemacht habe, wie im Film jemand feststellt, ist eine kühne wie unbewiesene Behauptung. Wie auch die öfter vorgebrachte These, Lindbergh habe mit echten Locations die Grenzen der Modefotografie pionierhaft erweitert, der Überprüfung nicht standhält. Mit vorhandenem Licht und Alltagshintergründen haben schon Louise Dahl-Wolfe (in den 30ern!), David Bailey, Guy Bourdin oder Helmut Newton gearbeitet.

Nein, trotz seiner Anfänge in der rheinischen Kunstszene lässt sich Peter Lindbergh nicht zum Gegenwartskünstler hochjazzen. Er ist ein origineller Modefotograf, nicht weniger, nicht mehr. Wenn Vecchiet im Finale ein Erklärungsmuster für den Elends-Chic und das Katastrophische in der Lindbergh-Ästhetik liefert und diese "Lösung" wie das Ei des Kolumbus präsentiert, bleibt eine Frage offen: Was war noch mal das große, supergeheimnisvolle Lindbergh-Rätsel?