Ein goldener Engel eröffnet "Goodbye Berlin" in fast klassischen Ballettposen, spreizt die Flügel mit Blick auf das Publikum und bricht dann zusammen. Wer etwas älter ist und mehr liest, sieht darin Walter Benjamins Engel der Geschichte nach dem berühmten Bild von Paul Klee – der Engel, der im Sturm der Gewaltgeschichte rückwärts in die Zukunft fliegt und mit Schrecken auf die Trümmer blickt. Wer lieber auf Technoparaden tanzt oder durch den Berliner Tiergarten joggt, erkennt darin die Goldelse, die Skulptur auf der Siegessäule am Großen Stern. Und nicht umsonst heißt die altgediente queere schwul-lesbische Stadtzeitschrift genau so, "Siegessäule" nämlich.
Der Engel in der Volksbühne ist eines der wenigen Kippbilder an diesem sonst oft eindeutigen Abend: Es enthält zum einen den Schrecken und den Tod, und zum andern erzählt es mit der Viktoria-Figur, denn das ist die Goldelse, auch vom Sieg und von der Selbstbehauptung der sexuell Andersdenkenden. Für sie war Berlin lange vor dem Regierungsumzug aus Bonn die deutsche, ach, die europäische Hauptstadt.
War, nicht ist? Das gibt gerade zu reden: Ist Berlin nun post-cool und zieht die internationale Kulturkarawane woanders weiter, genervt von den Mieten, verkrampfter Kulturpolitik, mutmaßlicher Zensur oder bloß von der Sprache? Oder verrät dieses Kleinreden der Stadt die darin gespiegelte Selbstüberschätzung, die ihr vorausging? Denn Berlin war nie ganz so zentral für die Künste dieser Welt, wie viele denken, die nach Berlin gezogen sind und womöglich enttäuscht wurden von diesem oder jenem, etwa von Misserfolg, wozu Berlin stets gerne die Hand reicht, auch wenn man das Scheitern hier später bemerkt als in New York oder London.
Alles beginnt zu brennen
Dem Post-Cool-Diskurs setzt die Choreografin und Regisseurin Constanze Macras nun etwas anderes entgegen. Man könnte es "pre-hot" nennen, denn nichts wird abgekühlt, sondern alles beginnt zu brennen. Nach fast zweienhalb dichten Stunden kann man den Überblick verlieren, wie oft Tänzerinnen und Tänzer in verschiedenen Skelettkostümen aufgetreten sind. Drei mal? Es sind der Enden viele.
Zum einen leihen sich Macras und ihr dreiköpfiges Dramaturgieteam Motive von Christopher Isherwoods "Goodbye to Berlin", der 1939 die Jahre der Bohème vor der Machtergreifung Hitlers beschrieb. Zum andern gibt es ein paar Spotlights auf den historischen Tanz dieser Zeit. Und nicht zuletzt will Macras, wie oft zu lesen war, damit auch ihr Ende an der Volksbühne feiern oder betrauern, wozu ihr Fans in den Redaktionen beispringen, als wäre es ein unerhörter Vorgang, wenn eine neue Intendanz mit anderen Leuten zusammen arbeiten wird.
Matthias Lilienthal übernimmt nächstes Jahr die Volksbühne, auch er wird den Tanz an diesem Sprechtheater stärken, weiterhin mit Florentina Holzinger, aber auch mit Marlene Monteiro Freitas statt mit Macras. Es ist gerade die Mode dieser Spielzeit, im Theater übliche Vorgänge zu skandalisieren und wie etwa Shermin Langhoff im Gorki nach jeder Premiere auf die Bühne zu steigen und darauf hinzuweisen, dass dieser oder jener nach ihrer Ära dann bei der Nachfolgerin Çağla Ilk nicht mehr arbeiten werde. Die Sehnsucht des deutschen genau so wie des post-deutschen Stadttheaters, nichts zu verändern, wirkt grotesk selbstbezogen.
Perspektive aus dem Bällebad der Geschichte
Und das stimmt wohl auch für die Selbstüberhöhung in jedem Berliner Bohème-Diskurs. Wer erinnert sich noch an die Selbstkasteiungen im Berliner Kreativmilieu, man sei schuld an der Gentrifizierung, weil man mit der eigenen, immens wichtigen Szene arme Stadtviertel cool gemacht habe? Das ließ sich nur behaupten, wenn man sämtliche Erschütterungen an den Finanzmärkten ignorierte, noch nie von internationalen Investmentfonds gehört hatte und auch nicht die Lage der Berliner Politik kannte, die das riesige Finanzloch nach dem von der CDU verursachten Bankenskandal Ende der 1990er-Jahre mit Grundstücksverkäufen stopfen musste.
Kultur ist wichtiger in Berlin als anderswo, das ist schon richtig, und wenn viel davon wegbricht in den auch politisch motivierten Kürzungsorgien, dann verliert die Stadt nicht nur Coolness, sondern auch Kapital. Aber trägt die Kunst wirklich so viel Mitschuld am Faschismus, wie der Abend in der Volksbühne immer wieder raunt? Gibt es da wirklich eine Komplizenschaft oder ist das nicht schon wieder eine Perspektive aus dem Bällebad der Geschichte?
"Goodbye Berlin" montiert viel parallel zwischen vom Ende der Weimarer Republik, der beginnenden Schreckensherrschaft im Nationalsozialismus und der aktuellen Situation mit einer rechtsextremen Partei im Bundestag. Das geht manchmal ruckzuck: Noch sehen wir historische Choreografie der Ausdruckstänzerin Mary Wigman, schon ist von Leni Riefenstahl die Rede, da dreht sich schon das Drehbühnenelement und auf der Rückseite turnen Tänzerinnen in Fetisch- und SM-Lederzeug zu hartem Techno. Diese Szene wiederholt diese Drehung viele Male, damit auch der letzte merkt: Oh, Kunst und Faschismus, ein Problem, und tragen die sexpositiven Berliner Clubs wie Kit Kat oder Berghain daran sogar eine Mitschuld?
Aber haben die Feiernasen mit Faschismus zu tun?
Sicher, es ist lustig, wenn die Tänzerin und Choreografin Candaş Baş wie eine Conferencière auf Englisch von Chemsex erzählt, also von Orgien auf einer Vielzahl von Drogen. Der Tänzer und Performer Campbell Caspary sieht in jedem Kostüm, das viel Haut zeigt, und auch sonst hervorragend aus und kann als einziger in Berlin Aufgewachsener im Team lustig von seiner Jugend in der Stadt erzählen. Und wenn es erst nach gut der Hälfte der Show auch um Isherwoods Figuren wie Sally Bowles, Otto oder die jüdische Kaufhausfamilie Landauer geht, sieht man, wie viel Erfahrung Macras als Choreografin von internationalen Filmszenen hat (etwa "Poor Things" und viele mehr).
Steph Quinci führt als Isherwood rasant durch die drei Stationen des Romans, aber als gestrandete Partyleiche auf der Suche nach einem After-Hour-Club, während rundherum ständig Zombies auftauchen in einer Art Apokalypse. Wir sehen das als Live-Video auf dem Gazevorhang und gleichzeitig als Bühnenaktion. Es wirkt wie eine lange schnittlose Plansequenz, die Präzision ist enorm, der Charme explodiert selbst in diesen Bildern der Kaputtheit. Aber was haben die paar Feiernasen nochmal mit dem Faschismus zu tun?
Auch Christopher Isherwood konnte oder wollte die Rolle der Bohème nicht moralisch erklären. Viel interessanter sind bei ihm die (deutschen) Figuren rund um die Protagonisten herum. Sie arrangieren sich, die Bohemiens können nur hilflos zuschauen. Die Parallelmontage aber legt im Vergleich eine Art Verantwortung nahe, eine Schuld, die, wird sie mit zu vielen Choreografien des Todes und mit Trümmerbildern wie am Schluss garniert, irgendwann schal und simpel wirkt.
Schönheit, Schrecken, Zweifel
Es ist trotzdem traurig, wenn etwas zu Ende geht. Man wird einiges vermissen. Macras war zwar nicht sehr lange an der Volksbühne, regelmäßig erst seit 2019. Da geht keine Dekadenarbeit zu Ende, zuvor hatte man sie im Gorki Theater und im Hebbel am Ufer sehen können. Aber auf der brutal großen Bühne der Volksbühne hat sie in einigen langen, musiklastigen Szenen eine noch einmal andere Sprache perfektioniert, die sie in "Goodbye Berlin" ausgiebig zelebriert. Zum Glück.
Es sind Szenen, die für einmal wenig illustrieren, sich auf den Tanz und oft auf die Gruppenchoreografien konzentrieren und die den Tracks von Robert Lippok eine Art Ko-Regie überlassen. Lippok, einst Ost-Berliner New Wave-Avantgarde und heute elektronischer Musiker und Künstler, pflegt zum einen diese Berlin-typische Bollertradition, die tief in die Bässe greift und Beton zum Zittern bringt. Aber er gestaltet diese Tracks rhythmisch komplexer, als es der Dancefloor verlangen würde. Und er lässt sich dabei viel Zeit für Crescendi, Akkorde, für Veränderung. Es sind gleichzeitig verstörend dunkle, kalte und doch verstörend warme Strecken, die Lippok für diese rein tänzerischen Szenen baut.
Es klingt auch toll in der Volksbühne, und wenn dann das ganze Ensemble mehrmals hintereinander an drei Pole-Dance-Stangen durch die Bank brilliert, mag man wieder jubeln, wie es sich für jedes Ende gehört. Auch weil hier die Musik und der Tanz allein das Publikum in einen Zustand versetzen, der beides beinhaltet: die Schönheit, den Schrecken, und das heißt immer auch: den Zweifel.