Presseschau zur Biennale

"Wir sind im Reich der Dummheit"

Ist die Venedig-Biennale eine bildgewaltige Apokalypse oder ein unkuratiertes Durcheinander? Und wie kommt der deutsche Pavillon an? Eine Auswahl von Pressestimmen

Während sich 2017 die meisten Kritiker einig waren, dass Christine Macels Biennale ein wenig sacht geraten war, hat Ralph Rugoffs Hauptausstellung unter dem Titel "May You Live in Interesting Times" offenbar mehr Polarisierungs-Potenzial. Die einen loben die Vielfalt der Ausdrucksformen, die ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, die anderen vermissen ein kuratorisches Konzept. Einige Meinungen zur Biennale:

In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ist von Kolja Reichert zu lesen:

"Auch diese Ausstellung zeichnet ein dystopisches Bild der Gegenwart, mit schwarzen Latexpuppen, die Alexandra Bircken über endlose Leitern ins Gebälk des Arsenale hochfliehen lässt wie gegen Glas stoßende Fliegen; mit ächzend übereinanderstürzender michelinmännchenförmiger Menschenmasse in einem Video von Jon Rafman; mit einer seltsamen Gauklertruppe, die in einem Gemälde der großartigen Nicole Eisenman in einem zum Segelboot umgestalteten Kieferknochen flöteblasend einen gallig grünen Wasserfall hinunterfährt. Aber sie verabreicht die Apokalypse nicht wie eine Medizin, sie lässt sie halt geschehen. Man braucht ja auch in der Apokalypse immer noch genauso Raum zum Fühlen, Denken und Handeln, und den Raum lässt einem die Ausstellung im selben Maß, in dem sie ihn der Kunst lässt."

Hanno Rauterberg meint in der "Zeit":

"So radikal, ja hemmungslos wie kein anderer Biennale-Leiter der letzten Jahre verzichtet Rugoff auf jede Art von Halt und Orientierung. In seiner opera aperta, den beiden Hauptausstellungen der Biennale, stehen nicht nur Fenster und Türen offen, es gibt auch kein Dach, keine Wände, keinen Überbau. Hatten andere Kuratoren noch geglaubt, sie müssten der Gegenwart einen roten Faden geben, um daran sämtliche Welt- und Kunstprobleme aufzuziehen, mag Rugoff die Biennale nicht als Belehrungsinstitut begreifen. Er will auch nicht, wie sonst bei solchen Ausstellungen üblich, das Publikum mit politischen Großweisheiten zudröhnen oder längst vergessene Künstler aus dem Archiv der Moderne hervorzaubern. Lieber zeigt er ein munteres Durcheinander: Als folgte er dem alten Motto des Dichters Lautréament, ist seine Biennale so schön wie das 'zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch'."

Catrin Lorch für die "Süddeutsche Zeitung":

"Dass sich so viele Künstler in den Pavillons der Auseinandersetzung mit einer als Endzeit empfundenen Gegenwart stellen, macht die Qualität dieser Biennale aus, während ausgerechnet die streng kuratierte Großausstellung bizarr wirkt. Ralph Rugoff hat viel Aufhebens darum gemacht, dass er nur wenige Künstler eingeladen hat und sie zwei verschiedene Ausstellungen einrichten ließ. Gekommen sind viele internationale Stars und mehr als ein Dutzend chinesische Künstler, die kaum einer kennt. Diese Auswahl hat Rugoff dicht, aber beziehungslos über die Säle verteilt. Irgendwo rappelt es immer." 

Adrian Searle schreibt in "The Guardian" aus London:

"Wir sind im Reich der Dummheit. In Rugoffs Show finden sich zersägte Motorräder, gehäkelte Korallenriffe, schwarze Bronze-Müllsäcke, ein gigantisches Arrangement geometrischer Formen, das hinter einer Glaswand hervorquillt, eine numinose Virtual-Reality-Welt des Staunens, Computerspiel-Gewalt, Ed Atkins' weinerliche digitale Kinder. Mein Hirn ist so durcheinander geschüttelt wie Julie Mehretus gemalte Wut- und Lachanfälle, wie dringende Nachrichten, die in einem abstrakten Äther verstümmelt wurden - ihre Botschaft unwiderbringlich.
Verglichen mit der faden Biennale-Hauptausstellung vor zwei Jahren hat Rugoffs Schau versprengte Ausbrüche von Dringlichkeit und die gelegentliche Überraschung. Arthur Jafas Film 'The White Album' schaut durch weiße Augen auf die Black Experience und schwarze Kultur - implizit rassistisches Abstreiten von Rassismus, Redneck-Ablehnung, ein Massenmörder, der seinem Geschäft nachgeht, eine Parade gewaltsamer Nachrichten, ein digitalisierter Iggy Pop, Terror, Wahnsinn, Tapferkeit. An diesem Wochenende hat Jafa zu Recht den Goldenen Löwen für den besten Künstler in der Hauptausstellung gewonnen. "The White Album" hält nichts zurück. Es hat einen furchtbaren treibenden Sog."  

Jennifer Higgie für "Frieze":    

"Obwohl die meisten der Werke neu sind, stellt sich der Eindruck ein, dass alles ein wenig ruinös ist - sowohl buchstäblich als auch symbolisch. [...]
Die Ausstellung ist voll von starker Malerei: Jill Mulleady's Hommage an Edward Munch; Michael Armitages Antwort auf das Chaos bei der Wahl in Kenia 2017; Nijdeka Akunyili Crosbys neue Portraits; George Condos und Henry Taylors Ausgrabungen von persönlicher und politischer Geschichte. Ein Höhepunkt ist Nicole Eisenmans kosmische Vereinigung von Alltag und Ewigkeit in fünf neuen großen Gemälden: je länger man schaut, desto mehr sieht man. Sie sind in einem der stärksten Räume des zentralen Pavillons ausgestellt, in Gesellschaft von Jean-Luc Moulènes fantastisch einfallsreichen Skulpturen und Rosemarie Trockels Rätsel von einer Installation. Es ist ein Dialog von endlosem Reichtum. Nichts, außer dessen Selbstbewusstsein, ist hier unerschütterlich und so entsteht Raum zum Atmen und Denken."

 

Stimmen zum deutschen Pavillon:

Nach der ganzen Geheimniskrämerei im Vorfeld hat die mit einem Steinkopf maskierte Natascha Süder Happelmann im deutschen Pavillon ein klares Zeichen gegen die Abschottung Europas gesetzt. Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr hält den Staudamm und die Klanginstallation, die sich von Steinen nicht aufhalten lässt, für eine starke Metapher. Und was sagen die anderen? Einige Pressestimmen: 

 

Boris Pofalla in "Die Welt":

"In Venedig, wo im Mai alles gerade so sinnlich-freundlich ist, wirkt Süder Happelmanns Intervention kühl und streng. Hier wird nicht geträumt und verführt wie nebenan bei den Briten und den Franzosen, hier wird aufgeklärt und wachgerüttelt. Ist das jetzt subversiv? Dafür sind die Botschaften zu eindeutig. Und es gibt ein strukturelles Problem: je mehr man ihn untergräbt, je offensiver politisch eine Künstlerin auf dieser luftigen Weltbühne in den Giardini agiert, desto fester und relevanter steht er am Ende immer da, der Deutsche Pavillon. Die Mission der Sinnstiftung wird von den Deutschen gern mal übererfüllt."

Jackie Wullschläger in der "Financial Times":

"Natascha Süder Happelmann (ein Pseudonym, das deutsche Identität und den Wunsch von Immigranten nach Assimilation hinterfragt) reduziert urbane Formen zu bedeutungslosen Trümmern - konsequenterweise bricht deutscher Selbsthass in diesem von den Nazis gebauten Pavillon hervor." 

Nicola Kuhn im "Tagesspiegel":

"Die künstliche Staudamm-Mauer, die bis unter der Decke quer im Pavillon eingebaut wurde, macht dem Besucher noch deutlicher, wie ernst die Lage ist: Die Ressourcen werden knapp – für alle Menschen. Ein melodramatisches Szenario. Erstaunlich, wie sich diese monumentale Architektur immer wieder neu bespielen lässt. [...] Die von Franciska Zólyom ausgewählte Position iststark. Mit ihrem Statement zum Schicksal der Geflüchteten macht sie einen wichtigen Punkt in der Welt der Happy Few, die hier an der Lagune zur Kunst flanieren. Aber ist es gute Kunst, sich einen Stein über den Kopf zu ziehen und einen Pseudo-Staudamm zu bauen, aus dem nur noch ein Rinnsal dringt? Da liegt das Problem des deutschen Biennale-Beitrags: Denn es zählt eben nicht nur die Botschaft, sondern auch die Botin, die Kunst selbst. Dass die auf eine Website gestellten Videos, die zu den authentischen Orten führen, elementar zum Kunstwerk gehören, macht die Sache nur noch komplizierter und wirft die Frage auf, wer hier eigentlich erreicht werden soll."

Unsere Kritiken zur Biennale in Venedig finden Sie hier.