"Rave" erscheint auf Englisch

Komm her, Sternschnuppe!

Jetzt können Expats endlich nachlesen, warum sie nach Berlin gezogen sind: 22 Jahre nach Erstveröffentlichung erscheint Rainald Goetz’ fulminante Erzählung "Rave" auf Englisch

"Rave" ist ein Buch, das ich wieder und wieder gelesen haben, immer voller Sehnsucht, weil die Unmittelbarkeit des Rauschs, die da beschrieben wird, so unerreichbar erschien. Meinen absurdesten "Rave"-Moment erlebte ich nach meinem letzten Versuch, mit Ecstasy eine gute Zeit zu haben. Ich hatte zu früh den Club verlassen und lag nun total wach und durcheinander im Bett. Mit verschleierten Blick blätterte ich durch den schmalen, roten Band, auf dessen Rücken die Einladung "Komm her, Sternschnuppe" steht, und versuchte, die Wirrnis darin aufzusaugen, damit meine eigene Wirrnis weniger beängstigend wäre. "Es war die Zeit der Lindenblütentage" … wie schön sind diese Sätze!

Wie sie wohl auf Englisch klingen? Im Sommer wird der britische Verlag Fitzcarraldo Editions Rainald Goetz' Erzählung erstmals in einer Übersetzung (von Adrian Nathan West) veröffentlichen. Als "Rave" 1998 erschien, war der Schriftsteller 43 Jahre alt. Es gab kein Berghain, und dessen Vorgänger Ostgut eröffnete gerade, der Tresor war noch in der Leipziger Straße und die Loveparade wurde in dem Jahr von 1,1 Millionen Menschen besucht. Berlin feierte sich die Seele aus dem Leib, war aber viel weniger international als heute.

Die New Yorker Künstler*innen, die Bundestagsabgeordneten, der Easy-Jetset, Suhrkamp, die Start-up-Visionär*innen, die Investor*innen, sie kamen alle später. Jetzt können endlich auch die englischsprachigen Zugezogenen nachlesen, warum sie – abgesehen von den billigen Mieten und der liberalen Grundstimmung – in Berlin sind. "Rave" feiert eine Freiheit zwischen Kollektiv und Individuum, die für den Ruf der deutschen Hauptstadt noch immer bestimmend ist, auch wenn das Buch gar nicht durchgehend in Berlin spielt. 

"Freiheit, ein Europäer zu sein"

22 Jahre nach Erstveröffentlichung ist die Unmittelbarkeit, die in dem Werk beschworen wird, natürlich noch weniger zugänglich. Leser*innen in London, New York und Berlin-Neukölln werden der untergegangenen Welt aus "Rave" wahrscheinlich mit Wehmut begegnen. Einmal schwärmt der Ich-Erzähler von der "Freiheit, ein Europäer zu sein. Man denkt, man hält das Leben nicht mehr aus, aus Gründen des politisch real medialen Faschoterros. Und zwei Flugstunden weiter ist alles anders, alles. Und alles an England ist toll. Die Leute, die Sprache, die Piratensender, London." Seufz!

Die Nostalgie verstärkt jetzt die Covid-19-Pandemie, in denen die Clubs geschlossen bleiben und körperliche Nähe sanktioniert ist. Dabei sehnt sich Goetz' Schreiben immer nach Direktheit: Gegen das Lineare erzählerischer und argumentativer Strukturen will es die unmittelbare Erfahrung der Rezeption setzen. Sätze werden abgebrochen, einzelne Wörter stehen nebeneinander, nur in lautmalerischer Beziehung.

In seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung spricht Goetz 1998 über das Zentralproblem bei "Rave", der Schwierigkeit, das Leben der "Nachtlebenleute" darzustellen: "… nämlich eine Zeitform JENSEITS jeder Vergangenheit, eigentlich sogar jenseits der Zeit überhaupt, zu finden für die Darstellung einer Lebensweise, deren ganze Mitte sich um die ZEIT genau dreht, um dauernde und absolute Zeitvernichtung, Zerstörung der Zeit, so hart und so restlos und brutal, wie es geht. Die darin ihr Nirvana, ihr Glück und ihr komplettes Desaster erfährt, und alles das immer GLEICHZEITIG, ununterscheidbar ineinander vermischt."

Bum-bum-bum

Dieser Synchronismus, der beim Feiern (angeblich, was weiß denn ich) erlebt wird, wird unter anderem durch die Musik hergestellt. So heißt es in "Rave": "Irgendeine Kaputtmechanik machte, dass mir jedes Damals schrecklich, fürchterlich und irgendwie todtraurig vorkommt. Immer ohne damals, jeder neue Bass." Der Schriftsteller versucht Ähnliches mit den Mitteln der Montage zu erreichen, durch das Zusammenfügen von erlebter Rede, abgerissenen Dialogszenen, inneren Monologfragmenten und lautmalerischer Musikdarstellungen: "Und der große Bum-bum-bum sagte: eins eins eins – / und eins und eins und- / und- / geil geil geil geil geil …"

Es gibt keine Spannungsbögen, keine lineare Handlung, wenn überhaupt eine zirkulierende, in die sich fragmentierte Hypotexte schieben. "Und sie tanzten und sprangen wie wild herum, und eine große, riesengroße Stimme sagte: 'ENTER THE ARENA' / Enter the arena. Ja natürlich, gerne, danke. / Vielen Dank. / Bin dabei. – Ich auch. – Ich auch."

Und doch, trotz aller Bemühungen, kann die Schrift bei der Darstellung dieser Sensationen und Zustände der realen Realität namens "Rave" nur scheitern. So sagt Goetz in einem Interview zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung: "Ich finde schon, dass 'Rave' ein Buch über die Nacht ist, das paar Sachen fasst und trifft. Aber jeder WIRKLICHE Rave ist natürlich tausend-, milliardenfach mehr, in jeder Hinsicht: mehr Worte, mehr Wahrheit, mehr Menschen, mehr Musik, mehr Leben, mehr Bier, mehr Meer. Wir sind ja schließlich auch auf Ibiza. Die Schrift kann, gerade im Gegensatz zum Bild, ganz wenig, sie ist wirklich ein trauriger Krüppel. Aber für den, der die Schrift liebt, ist dieser traurige, der Welt hinterherhinkende Krüppel das Inbild des richtigen Lebens."

Schöne Rückkopplungseffekte

Das Buch steht in direkter Tradition zu anderen "hinterherhinkenden Krüppeln" der frühen bundesdeutschen Popliteratur, Texten von Rolf-Dieter Brinkmann, Jörg Fauser, Hubert Fichte vor allem, Dichter, die sich wiederum an amerikanischer und britischer Beat-Dichtung orientierten. Wenn "Rave" jetzt auf Englisch erscheint, wird es in diesem angelsächsischen Kontext zurückgeworfen, auch in denjenigen von Drogenromanen wie "Less Than Zero", die wiederum Goetz direkt beeinflusst haben – was schöne Rückkopplungseffekte ermöglicht.

Eine Ahnung von dem, was "Rave" nach wie vor interessant macht, gibt der Ankündigungstext von Fitzcarraldo Editions: Rainald Goetz "feiert das, was weder Gegenkultur noch 'Massenkultur' in Adornos abfälligem Sinn ist, stattdessen eine neue Art, geistige Prozesse und Intimität zu erfahren." 

In unserer heutigen Streamingwelt, in der in den endlosen Archiven alles nebeneinander verfügbar ist, wirkt der klassische Kulturbegriff ohnehin obsolet. Nie war es leichter, was der "Rave"-Protagonist namens Dark sich wünscht: "in seiner Habilitationsschrift über Basic Channel die Kunst der Gesellschaft von Luhmann mit Adornos nachgelassenen Beethoven-Buch zu versöhnen."

"Nein, wir hören nicht auf, so zu leben." Mit diesem Satz endet "Rave". Er klingt nicht nur in der Pandemie seltsam, sondern auch, weil man Rainald Goetz nicht mehr feiern sieht. Seit acht Jahren hat der Autor auch gar nichts mehr veröffentlicht, für September – wenn das Coronavirus das nicht verhindert – ist endlich ein neues Theaterstück angekündigt. Wie gut haben es englischsprachige Leser*innen, die diesen Autor erst entdecken können!