Kinofilm "Rimini"

Am Abgrund vom Paradies

Ulrich Seidl "Rimini", Filmstill, 2022
Foto: Neue Visionen Filmverleih/dpa

Michael Thomas verkörpert in Ulrich Seidls "Rimini" den gescheiterten Schlagersänger Richie Bravo

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl soll bei einem Dreh minderjährige rumänische Darstellerinnen und Darsteller ausgebeutet haben. Jetzt kommt sein neuer Film "Rimini" ins Kino. Schaut man nun anders auf das Werk?

Es ist immer schwer, Werke von ihren Urheberinnen und Urhebern zu trennen. Und von den Bedingungen, sofern bekannt, unter denen diese Werke entstanden sind. Bei Dreharbeiten etwa kann es schon mal ruppiger zugehen als im fertigen Film. Kinder in alten Filmen finden wir solange niedlich, bis eine Backstory von Missbrauch und gefügig machenden Drogen auftaucht: Judy Garland, die schon als Sechsjährige zu drehen anfing, wurde von Hollywood kaputtgemacht. Und auch heute fragt man sich mitunter, ob Kinderdarsteller wirklich wissen, worauf sie sich eingelassen haben, nachdem ihre Eltern einen Filmvertrag unterschrieben haben. Filmschaffende, die mit Kindern arbeiten, haben eine besondere Verantwortung.

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl soll bei Dreharbeiten zwischen 2017 und 2018 besonders rücksichtslos mit Kindern und Jugendlichen umgegangen sein. Der Dreh des Films "Sparta" fand in einer ärmlichen Gegend in Rumänien statt, was auf verschärfte Ausbeutungsverhältnisse schließen lässt. Seidl selbst hat den Vorwurf der Ausbeutung in einem Billiglohnland kürzlich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" zurückgewiesen: "Ich habe den Film dort gedreht, wo sich die wahre Geschichte ereignet hat, die ihn lose inspiriert hat", erklärt der Regisseur, "Armut und Ausbeutung sind zusammen mit Gewalt die wichtigen Themen dieses Films." Was nicht ausschließt, dass auch die Darsteller Opfer von Ausbeutung und Gewalt gewesen sein könnten.

Der Fall "Sparta" scheint in der Tat kompliziert zu sein. Sprechen wir zunächst lieber über "Rimini", der jetzt vor "Sparta" in die bundesdeutschen Kinos kommt. Ursprünglich gab es ein einziges Filmprojekt (Arbeitstitel: "Böse Spiele"), das sich in zwei "Bruderstücke" verzweigte. Ewald, die von Georg Friedrich verkörperte Hauptfigur in "Sparta", ist der Bruder von Richie Bravo, um den die Filmhandlung von "Rimini" kreist – in dem der jüngere Ewald nur kurz auftaucht.

Michael Thomas verkörpert Richie Bravo, diesen erbärmlichen Koloss, bei dem doch immer wieder Momente einer (vielleicht) glanzvollen Vergangenheit aufblitzen. Wie immer bei Seidl, der Thomas in "Import Export" schon in einer ähnlichen Rolle einsetzte, verschmelzen auch hier Darstellung und realer Hintergrund miteinander, ohne dass man genau sagen könnte, wo die Fiktion anfängt. Unüberhörbar hat der Hauptdarsteller eine Sängerkarriere hinter sich. Außerdem war Thomas Stuntman und erfolgreicher Schwergewichtsboxer in Österreich. Zwar kommt diese sportliche Seite in "Rimini" nicht zum Tragen, aber in seinem angeknacksten Machotum erinnert der Protagonist an Mickey Rourke in Darren Aronofskys "The Wrestler" (2008). Die Parallelen reichen bis in die mies bezahlten Showauftritte hinein (hier Singen, dort Hardcore-Wrestling), außerdem spielt in beiden Filmen die Wiederbegegnung mit einer halbvergessenen Tochter eine zentrale Rolle.

Zwischen Fremdscham und Gerührtsein

Richie Bravo überwintert in Rimini an der Adriaküste, einem Urlaubsparadies, das wohl auch bessere Tage gesehen hat. Italienische Lebensart ist hier nur als billiges Zitat zu haben; Italienerinnen und Italiener sind kaum auszumachen. Dafür ist Seidls winterliches Rimini mit Touristengruppen aus Österreich bevölkert, denen Richie Bravo sein Schlagerschmachtprogramm serviert. Um sein Salär aufzubessern – und seine Trunk- und Spielsucht zu finanzieren – geht er mit einigen Damen auch ins Bett. Als seine einst vernachlässigte, nun erwachsene Tochter Tessa (Tessa Göttlicher) aufkreuzt, um von Richie eine kräftige Entschädigung für ihre kaputte Kindheit zu verlangen, greift der Barde zu kriminellen Mitteln.

Richie ist ein Charakterschwein, aber Seidl bringt sein Publikum so nahe an ihn und seine Widersprüche heran, dass wir bis zum Schluss die Sympathie nicht ganz verlieren. Zu den Höhepunkten zählt die Szene, in der Richie nur für seine Tochter ein – eigens für den Film komponiertes – "Winnetou"-Lied singt. Es ist das einzige Lied, das von Anfang bis Ende präsentiert wird. Fast eine Musical-Szene in der Mitte des Films, bei der man hin- und hergerissen ist zwischen Fremdscham und Gerührtsein. Old Shatterhand (Michael Thomas hat die Rolle schon in Karl-May-Freilichtaufführungen gespielt) singt da von seiner Liebe zum Apachen-Häuptling. Verlogener geht’s nicht. Und doch spürt man die Zuneigung des Sängers, zum Publikum, zu wem auch immer. Sogar Tessa hat Tränen in den Augen, dieselbe Tessa, die sonst nur Verachtung für Richie übrig hat, sein Geld will und "Servus".

"Rimini" ist ein starker Film von einem Regisseur, der seine Figuren nicht verrät, der die Menschen liebt mitsamt ihren Abgründen. Ein Monopol-Interview mit dem Filmemacher zu "Rimini" wurde in dem Moment abgesagt, als der Nachfolgefilm "Sparta" in Toronto abgesetzt wurde. 2014, als sein Film "Im Keller" auf der Mostra von Venedig lief, hat der Autor dort ein Interview mit Seidl geführt. "In jedem von uns stecken Abgründe, davon bin ich überzeugt, auch in mir selber steckt das Böse oder das Schreckliche", erklärte der Filmemacher, "Sexuelle Abgründe, Machtansprüche, Gewaltfantasien, das alles steckt in uns. Der Film ist wie ein Spiegel: Wieweit ist das bei mir auch möglich?" Das fragt man sich jetzt: Wieweit ist Ulrich Seidl selbst imstande, moralische Grenzen zu überschreiten, und sei es für den "guten Zweck" eines Filmdrehs, bei dem heikle Themen angepackt werden?

Über den Film "Sparta" selbst, der am Mittwoch und damit zu spät für diesen Text erstmals in Deutschland zu sehen war – auf dem Filmfest in Hamburg – kann hier nicht viel gesagt werden. Laut einer offiziellen Inhaltsangabe muss sich Ewald – der Bruder von Richie Bravo – seinen pädophilen Neigungen stellen. "Sparta" spielt in einer ärmlichen Gegend in Rumänien, in verlassenen Schulgebäuden trainiert Ewald einige Jungen in Kampfsport. Offenbar kommt es in dem Film nicht zu pädosexuellen Handlungen, aber für die Handlung wird Seidl ohnehin nicht kritisiert.

Nur für die "gute Story"?

Am 2. September erschien ein "Spiegel"-Artikel, in dem von Grenzüberschreitungen während der Dreharbeiten die Rede ist. Die vor allem von rumänischen Eltern vorgebrachten Vorwürfe gegen Seidl wiegen schwer. Zunächst habe der Regisseur ihnen nicht offen mitgeteilt, dass ihre minderjährigen Söhne in einem Film mitwirken würden, der Pädophilie thematisiert. Die Kinderdarsteller seien dann ohne Vorbereitung traumatisierenden Situationen ausgesetzt gewesen. Der Junge eines alkoholabhängigen Vaters soll gezielt für eine Szene mit einem Alkoholiker ausgewählt worden sein. Mehrmals sollen während des Drehs negative Emotionen bei Kindern und Jugendlichen getriggert worden sein – und Seidl und Crew-Mitglieder hätten die Darsteller dazu gedrängt, belastende Situationen lange auszuhalten. Ein Kind, so wird berichtet, habe gegen seinen erklärten Willen sein T-Shirt ausziehen müssen. Ein anderes habe sich beim Dreh übergeben.

In dem eingangs erwähnten Interview, das am 3. Oktober in der "Süddeutschen Zeitung" erschien, weist der Regisseur die meisten Vorwürfe zurück und spricht von "Rufschädigung, der man mehr oder weniger hilflos ausgesetzt ist". Seidl wirft den "Spiegel"-Journalisten vor, ihn nicht während der ins Jahr 2019 zurückreichenden Recherche, sondern erst zwei Tage vor der Veröffentlichung mit den Vorwürfen konfroniert zu haben. "Die Geschichte war da längst von den anonymen Vorwürfen geprägt. Es ging nur um einen konstruierten heiklen Zusammenhang aus den Schlagwörtern Kindern, Pädophilie, Gewalt und Rumänien. Zusammengefasst ergaben sie eine 'gute Story'."

Doch selbst Seidl räumt ein, gegenüber den Eltern der Kinderdarsteller das Wort "Pädophilie" nicht benutzt zu haben. Seidl in der "SZ": "Aus ganz bestimmten Gründen: Weil man dann sofort glauben würde, es würden pädophile oder sexualisierte Szenen gedreht. Natürlich ist das nicht gedreht worden. Es war auch nie die Absicht. Aber wenn man es so erklären würde, müssten die Eltern den Eindruck haben."

Eingestellte Ermittlungen 

Wenn der Artikel mit der Headline "Ich glaube, sie haben uns betrogen, weil wir arm sind" (das Zitat eines rumänischen Vaters) nur eine konstruierte Story wäre, warum geht Seidl dann nicht gerichtlich gegen das Magazin vor? Seine Gegenwehr in der "SZ" wirkt schwach, weil der Regisseur damit argumentiert, dass "die" Eltern – denen er die Sichtung des Films ermöglicht und mit denen er dann gesprochen habe – an dem fertigen Film nichts auszusetzen hatten ("Die Reaktion auf den Film war eine große Erleichterung. Alle waren mit dem, was sie gesehen haben, einverstanden. Darüber bin ich natürlich sehr froh."). Über etwaige Übergriffe beim Dreh, das eigentliche Thema des "Spiegel"-Artikels, spricht Seidl überhaupt nicht. Und noch etwas taucht weder in Seidls Antworten noch in einer Interviewfrage auf: Schon während der "Sparta"-Dreharbeiten hatte die rumänische Polizei ermittelt, stellte die Ermittlungen aber ein. Inzwischen wurde die Akte wieder geöffnet, wie rumänische Medien im September berichteten.

Der Ruf des Filmemachers ist nun angeschlagen, das stimmt. Wie triftig die Vorwürfe gegen Ulrich Seidl sind, wird sich noch zeigen. Eins ist klar: Kinder – die nun mal einen anderen Realitätsbezug als Erwachsene haben – in belastende Situationen zu stecken oder zu retraumatisieren, das geht gar nicht. Vom rechtlichen Rahmen, der auch in Rumänien gilt, ganz abgesehen. "Sparta" werden wir uns vielleicht mit unguten Gefühlen anschauen, wenn er irgendwann 2023 läuft. Und – auch wenn die Ambivalenzen schwer auszuhalten sind –: "Rimini" ist trotz allem ein sehr guter Film.