Gleich neben der SPD-Zentrale, dem Willy-Brandt-Haus, steht in der Stresemannstraße 30 in Berlin noch immer das rote Haus. In den mittleren 1960er-Jahren beherbergte es frisch angekommene Arbeitsmigrantinnen, die bei der Elektronikfirma Telefunken in der Fabrik arbeiteten. Viele kamen aus der Türkei, aber auch aus Griechenland und anderswo.
Eine von ihnen war Emine Sevgi Özdamar, die später wieder in die Türkei zurückkehrte, rund zehn Jahre Theater studierte und auch spielte, bevor sie als Künstlerin erneut nach Deutschland kam. Hier arbeitete sie mit vielen Granden des DDR-Theaters wie etwa dem Westschweizer Benno Besson in Ostberlin und Paris oder Thomas Langhoff. Und von 1979 bis 1984 war sie fest im Ensemble des jüngst verstorbenen Claus Peymann in Bochum. Das ist alles unter legendär einzuordnen. Am besten kennt sie ein breites Publikum aber für ihren Roman, ein Bestseller von 1998: "Die Brücke vom Goldenen Horn", der berühmteste Titel ihrer Istanbul-Berlin-Trilogie, der von ihrer Zeit im Wonaym erzählt, wie die Frauen das Wohnheim in der Stresemannstraße nannten.
Zur Eröffnung der letzten Spielzeit der deutschtürkischen Gorki-Intendantin Shermin Langhoff, die einen Sohn der Ostberliner Theaterfamilie der Langhoffs heiratete, steht Emine Sevgi Özdamar im Zentrum mehrerer Ausstellungen unter dem Titel "The Red House" sowie der Inszenierung mit dem gleichen, allerdings deutschen Namen. Bereits im Foyer des Theaters hängen die Zeichnungen, die Özdamar als Assistentin von den Proben an der Volksbühne in den 1970er-Jahre gemacht hat, um sich so, lange vor Handyfotos und Videokameras, an die Probenprozesse zu erinnern.
Ästhetischer Spagat
Und natürlich gibt es auch zahlreiche dokumentarische Arbeiten, Performances und Talks nicht nur über das Wohnheim, sondern generell über weibliche Arbeitsmigration an vielen Stationen im benachbarten Palais am Festungsgraben. Der Herbstsalon, wie das Eröffnungsfestival heißt und bereits der siebte seiner Art ist, erhält Förderung vom Bund und muss nicht kleckern. Das dickste Ding ist aber der Theaterabend von Ersan Mondtag, den er mit dem Hamburger Kunst- und Theaterkritiker Till Briegleb entwickelt hat, nach einer Idee von Shermin Langhoff.
Das Team verwendet einige Motive, Szenen und auch Figuren aus "Die Brücke am Goldenen Horn" wie etwa den kommunistischen Heimleiter, hat aber zusätzlich viele Gespräche mit ehemaligen Bewohnerinnen geführt und sie zu einem Stücktext montiert. Nun könnte man sagen: Deutschtürkische Erinnerung der Elterngeneration im Gorki, nun ja, was sonst? Zumal die Mütter bereits das Thema waren in einem anderen Gorki-Kracher, nämlich in "Unser Deutschlandmärchen" nach dem Romandebüt von Dinçer Güçyeter? Doch dieser Abend macht vieles anders und vollführt einen ästhetischen Spagat. Es sieht aus, als sei Ersan Mondtag, der dark lord des jüngeren Theaters, der in den Kunstbetrieb schielt, in ein empowerndes Musical geraten. Das allein ist schon den Besuch wert.
Zunächst wähnt man sich wie gewohnt bei Mondtag in einem Geisterhaus, in dem Menschen und Themen nicht zur Ruhe kommen und die Zeiten sich überlagern. Rotes Theaterportal, dräuende Streicher, Schummerlicht, zugemauerte Türen an den Seiten und hinten hoch oben ein Blick wie durch milchiges Glas, ohne Außenkontakt. Vier alte Frauen fragen abwechseln vier junge in hellblauen Fabrikmäntelchen und Föhnfrisuren, ob sie ihre Enkelin sei. Es sind natürlich ihre jungen Ebenbilder. Wohnheim, Altersheim, Abschiebeknast oder Hospiz: Alles ist möglich, und alles auch so gedacht.
Geisterhafter, neogotischer Inszenierungsstil
Zunächst bedienen die vier alten Schauspielerinnen auch den dunklen, im Gegensatz zum Standard des deutschen Stadttheaters leisen Ton. Doch sie werden aufdrehen und ihre Soli kriegen. Wenn man Sema Poyraz, Eva Maria Keller, Semra Uysallar und Ursula Werner zuschaut, merkt man erst, wie wenig Alte und erst recht wie wenig alte Frauen das so viel gelobte Ensemble-System in Deutschland in der Regel zeigt. Mondtag und Briegleb erfinden vier Geschichten für sie, die einzeln mit den wie Holz- oder Linolschnitte designten Schwarzweiß-Videos von Beni Brachtel vorgestellt werden.
Und muss man es nicht auch als Fortschritt sehen, wenn nun sogar die Deutschen Türkinnen spielen, gerade Ursula Werner, die am Gorki Theatergeschichte geschrieben hat in jenen Inszenierungen von Thomas Langhoff, der mit "Drei Schwestern" von Tschechow und der "Übergangsgesellschaft" von Volker Braun in den 80ern die DDR-Müdigkeit und den Umbruch vorausahnend auf die Bühne gebracht hat? Wichtiger ist aber die Brücke von den Arbeitsmigrantinnen in die Kunst- und Theaterdiskurse im Osten: über Leute wie Ursula Werner, dann über die Biografie von Özdamar und den Brecht-vernarrten türkischen Heimleiter Öngürun.
Mondtags geisterhafter, neogotischer Inszenierungsstil pausiert aber nicht nur in den erzählerischen Passagen (die Geschichten der Frauen). In spektakulär ausladenden Kostümen vom Josa Marx tritt wiederholt ein mehr oder weniger für diese Inszenierung von Shermin Langhoff mitgegründeter Frauenchor auf, der "Seyyare – Anatolian Women's Choir" .Mit der Unterstützung von vier Live-Musikerinnen singt er türkische Songs für die Heimweh-Diaspora der Arbeitsmigrantinnen. Sieht super aus, klingt top, auch die Tontechnik leistet da ganze Arbeit.
Schon auch als Warnung vor dem nahenden Faschismus
Der Abend stopft zwar ziemlich viel Dramaturgisches ineinander, da das rote Haus auch mal eine Erziehungsanstalt war, in dem etwa der junge Otto von Bismarck gelitten haben soll. Volksbühnen-Urgestein und Mondtag-Spezi Frank Büttner gibt Bismarcks Wiedergänger so schnarrend und schreiend, wie man das an der Volksbühne nun mal gelehrt hat in den 90er-Jahren. Man ist aber auch froh um den kleinen Konzeptwitz, wenn Büttner auf die Bühne stürmt und herum schreit, diese Melancholie hier sei ja nicht mehr auszuhalten. Und dann gibt es auch noch eine Fernsehebene, wenn ein Gerät alle möglichen schlimmen Ereignisse und Parolen ins Geisterhaus wirft, um den letzten Zweifel auszuräumen, dass das hier alles schon auch als Warnung vor dem nahenden Faschismus zu verstehen sei.
Alles will verstanden werden, das kann man von andern Mondtag-Abenden nun wirklich nicht behaupten. Das ist der interessante Clash zwischen seiner Ästhetik und der gelegentlichen Feelgood-Kunst dieses Hauses, die man über die Jahre schätzen gelernt hat, auch weil das im Stadttheater nicht allzu oft vorkommt. Aber die gar nicht so geheime Kernbehauptung dieser Arbeit und vielleicht vom ganzen Herbstsalon unter dem Titel "Das Rote Haus" ist die Spiegelung oder die Solidarität des Ostens mit den Arbeitsmigrantinnen – mit Leuten wie Büttner und Werner, mit den Brecht-Themen und einmal sogar Büttner in Helene-Weigel-Perücke …
Das ist ein offenbar länger gärendes Projekt von Mondtag: Bei der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr bespielte Mondtag einen Teil des Pavillons mit seinem "Monument eines unbekannten Menschen", nebst den Videoarbeiten von Yael Bartana, beides unter der Kuration von Çağla Ilk, die nächstes Jahr die Nachfolge von Langhoff am Gorki antreten wird. Mondtags Monument meinte eigentlich die Geschichte seinen Großvaters, der aus der Türkei kam und an der Asbestbelastung seiner Arbeit starb. Aber schon in Venedig webte Mondtag DDR-Interieurs in die Räume, mit denen er eine Verbindungslinie zog von plötzlich aussortierten Arbeitern im Osten nach der Wende und den entlassenen Türken in der Rezession der 90er-Jahre, besonders in Berlin. Es ist ja kein Zufall, dass im Osten darauf die Baseballschlägerjahre folgten, die Jahre verbreiteter und sogar tolerierter rechtsextremer Jugendgewalt, aber auch die Zeit migrantischer Gangs im Westen, über die noch etwas weniger gesprochen wird.
Letzte Inszenierung von Mondtag am Gorki
Am Ende kam es dann aber noch dick, als die Intendantin nach dem Schlussapplaus selbst die Bühne betrat und darauf hinwies, dies sei die letzte Inszenierung von Mondtag am Gorki Theater. Griff Langhoff damit auf das Programm ihrer Nachfolgerin Çağla Ilk vor und sagte, ausgerechnet Mondtag, den Ilk nach Venedig holte, werde nicht mehr mit ihr arbeiten? Tatsächlich munkelt man hinter den Kulissen, dass Ilk in Vorgesprächen mit vielen Künstlerinnen und Künstler auf massiven Widerstand stoße mit ihren Plänen, das Gorki nicht mehr als klassischen Repertoire- und Ensembletheater zu führen. Der Theaterstreit von 2017, Stichwort Dercon und Volksbühne, könnte sich womöglich also bald wiederholen, wenn schon wieder jemand etwas verändern soll an einem Haus, aber halt bitte nicht zu viel oder am liebsten auch gar nichts außer vielleicht das Foyer neu anzustreichen. Ah, nein, das ist ja denkmalgeschützt.
Auf Nachfrage bestätigt die Pressestelle, dass Langhoff es genau so gemeint hat. Sowohl Mondtag, aber auch "viele weitere" werden nicht mehr an diesem Haus arbeiten. Und Mondtag schrieb, er stehe in langjährig getroffenen Verpflichtungen mit größeren Institutionen im Ausland, womit wohl in erster Linie Opernhäuser gemeint sind. Dass die amtierende Intendantin auf offener Bühne das noch fast ein Jahr lang nicht öffentliche Programm ihrer Nachfolgerin anspricht und das Haus schon so früh von "vielen weiteren" Abgängen spricht, bleibt dennoch ein unerhörter Vorgang, der den Konflikt bestätigt, wenn auch nicht unbedingt einen zwischen Çağla Ilk und Ersan Mondtag.