Stingel in Riehen

Im Fuchsbau

Rudolf Stingels Malerei hat beides: Schönheit und Intellektualität. In der Fondation Beyeler bei Basel zeigt der Südtiroler, wie er größte Widersprüche in Materie bannt

Es ist bemerkenswert, wie viele warmherzige Umschreibungen Museumsdirektor Sam Keller für eine Kunst findet, die zunächst so kühl wirkt. Ihm gehe es mit Rudolf Stingel wie bei einer Wanderung in den Bergen, wenn man denkt, die Sonne sei jetzt aber wirklich untergegangen, man dann einen neuen Gipfel erreicht und sie wieder scheinen sieht. Der Künstler zünde seine Kerze künstlerisch von beiden Enden an, er sei ein "schlauer Fuchs", dessen "Fuchsbau immer neue Gänge hat, in denen man sich verlieren kann". 

Einen Teil des Fuchsbaus kann man jetzt in Kellers Museum, der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel erforschen, wo die Ausstellung "Rudolf Stingel" am Wochenende eröffnet hat. Die elegante Architektur von Renzo Piano besitzt wie die Kunst des in New York lebenden Südtirolers die richtig Balance zwischen Nüchternheit und überwältigender Schönheit. So schaut man aus einigen der neun Räumen direkt auf den Seerosenteich vor dem Haus: draußen die große Pracht des Maitages, hier drinnen die große Pracht der Kunst, ihrer eigenen Kaputtheit bewusst. Aber dazu später. 

Stingel kriegt besondere Ausstellungsorte stets gut in den Griff. Gegen die Berliner Neue Nationalgalerie, in denen der heute 63-Jährige 2010 ausstellte, und dem venezianischen Palazzo Grassi, wo seine letzte europäische Werkschau 2013 zu sehen war, wirkt die Fondation Beyeler geradezu zurückhaltend. Im spätbarocken Palast am Canal Grande hatte der Künstler Wände und Boden mit einer Reproduktion eines abgetretenen Orientteppichs verkleidet, sich so seine eigene Umgebung und größere Unabhängigkeit von der Architektur geschaffen und nebenbei auf die koloniale Vergangenheit der Lagunenstadt verwiesen. Fast schon anmaßend wirkte Stingels Konfrontation mit der modernen Architekturikone in Berlin, wo er die komplette obere Halle des Mies-van-der-Rohe-Baus mit einem ornamental gemusterten Teppich ausgelegt hat und einen Kronleuchter an die Decke hängte. 

Seine Eingriffe in seiner ersten Schweizer Ausstellung seit 1995, die vom Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann kuratiert wurde, wirken dagegen milder. Auch in der Fondation Beyeler hat er mehrere Wände mit Teppichen verkleiden lassen, aber hier ist es offenbar kein Kommentar zur Architektur, sondern bezieht sich vor allem auf seine eigene Malerei. Ein orangefarbener Teppich - ein alter Bekannter im Stingel-Œuvre - lädt dazu ein, mit den Händen zu "malen" und Spuren zu hinterlassen. 

Stingel, ein Mitmachkünstler?

Das Restaurant der Fondation und einen Ausstellungsraum hat Stingel mit Dämmplatten verkleidet, in deren Alubeschichtung Besucher Dinge einritzen können. Eigentlich war nie vorgesehen, dass die Leute sich in seiner Kunst verewigen, und doch gilt Rudolf Stingel als Mitmachkünstler. Auf der von Francesco Bonami kuratierten Venedig-Biennale 2003 ging es los: Stingel hatte einen Raum mit diesen silbernen Platten ausgestattet und selbst ein paar Linien eingeritzt. Die Besucher fühlten sich befähigt, es ihm gleich zu tun. Stingel ließ es zu, denn um Spuren ging es immer wieder in seinem Werk: Das Unperfekte spielt er gegen Erhabenheit aus, das Selbstgemachte gegen lästigen Geniekult; bereits 1989 schrieb er eine Anleitung, wie man sich "einen Stingel" selbst basteln kann. 

Museen sind stolz um jeden Grad von Interaktion, den sie Kunstbetrachtern zugestehen, aber besondere Mühe scheinen sich die Besucher in Riehen nicht zu geben: Kaum eine originelle Botschaft (einsamer Favorit bislang: "Rettet die Welt vor 5G"), stattdessen Schneeflocken, Namen von Angehimmelten und Herzchen ohne Ende. Der Schweizer Komiker Emil hat im Restaurant ein Selbstporträt in das Silber geritzt, ein anderer Gast Gerhard Richters "Betty". Eine magere Ausbeute, wenn man bedenkt, welche Jahrhundertthemen in diesen Teppichen und Celotex-Platten stecken: Fragen nach Aura, nach dem Betrachter im Kunstwerk, Fragen nach Demokratie und Teilhabe. 

Hinter der nächsten Biegung im Fuchsbau steht man dann vor so einer vollgekritzelten Wand, die Rudolf Stingel in massivem Kupfer hat abgießen lassen. Der Künstler, der seine Autorschaft an das Publikum übergeben hat, holt sie sich zurück und "adelt" die zumeist trivialen oder schlicht vandalistischen Beiträge durch das Material. Es ist wie eine Umarmung des Kaputten, das dadurch gleich weniger kaputt wirkt.

Solche Strategien des Loslassens und Wiederaneignens, von Konzept und Zufall liegen vielen Arbeiten Stingels zugrunde. Etwa die Selbstporträts in fotorealistischen Gemälden, die zurückgehen auf eine Fotoserie des Künstlers Sam Samore, die also genau genommen keine Selbstporträts sind, aber durch die Übersetzung in Malerei dazu werden. Eines diese großformatigen Bilder, die den Maler nachdenklich, vielleicht auch deprimiert und mutlos zeigen, ist in Riehen zu sehen. Kunst entstehe in der Überwindung des Zweifels, sagt Udo Kittelmann auf der Pressekonferenz - hier wird diese mysteriöse künstlerische Kraft, dieses Trotzdem, zum Bild.

Es gibt einige solcher Bilder, die dieses Wunder und diese Profanität der Entstehung von Kunst zum Thema haben: Gleich im ersten Raum der Ausstellung sind zwei Gemälde von Instrumenten und vom Prozess der Malerei zu sehen: eine Spritzpistole, Farbe, die in einer Schüssel angemischt wird. Beide Bilder gehen zurück auf Fotos, die Stingel 1989 für seine Anleitung zum Kunstmachen in Auftrag gegeben hat und die fast schon aggressiv nüchtern ein Statement zur minimalistischen Malerei sind.

Das Bild wirkt wie eine Erinnerung daran, dass man mit Kunst die Kontingenz der Wirklichkeit produktiv machen kann. Fußabdrücke auf Leinwänden, Spuren der Bearbeitung durch das Publikum, Aneignung fremder Bildwelten und Medien, ungewöhnliche Malmittel wie Emaille: Das ganze Stingel-Werk bebt von dieser Spannung zwischen Kontrolle und Zufall, von Zwang und Freiheit, letztlich zwischen Kunst und Leben. Am eindrücklichsten verdichten sich diese Widersprüche in einer großformatige Grisaille, einem Gebirgspanorama, dessen fotografische Vorlage von Stingels Vater stammt: Der hatte das Bild nach der Rückkehr aus dem Krieg aufgenommen, vielleicht, weil er sich ihrer ewigen Schönheit vergewissern wollte. Stingel hat auch die Kratzer reproduziert, die nun die Erhabenheit der Bergwelt kontrastieren.

Wo ist Zuhause? Der als wortkarg bekannte Rudolf Stingel bekannte auf der Pressekonferenz, dass er Europa vermisse. Kann es sein, dass er Heimat in der Heimatlosigkeit der Kunst findet? Seine Ausstellung in Riehen jedenfalls ist eine Ermutigung.