Großausstellung

Ding-Trip durch das Ruhrgebiet

Ein verlassener Kinosaal, eine ehemalige Azetylengas-Erzeugungsanlage, ein Ascheplatz eines Vorortclubs, eine ehemalige Trauerhalle, ein unwahrscheinlicher Personen-Tunnel unter einer Straßenkreuzung oder das Einwohnermeldeamt im Rathaus: Die Kunstausstellung "Ruhr Ding: Territorien" zeigt dem Besucher besondere Orte. Und an diesen Orten Kunst. 22 Projekte sind in Bochum, Dortmund, Essen und Oberhausen zu entdecken. Das generiert viele Spannungsmomente. Und im besten Falle die Begegnung mit Irrlichtern

Was ist spannend? Räume inszenieren Kunst, ordnen Kunst. Museen, Sammlungen, eindrucksvolle staatstragende Architekturen erzählen darüber. Beim von Britta Peters kuratierten "Ruhr Ding: Territorien" erzählen die baulichen Voraussetzungen der bespielten Kunst-Orte zunächst einmal nicht über die Einsortierung von Kunst. Sondern berichten von sich aus über Arbeit und Soziales, von Vergangenheit und unsortierter Gegenwart. Wer sich auf diesen Ding-Trip durch das zentrale Ruhrgebiet begibt, besucht dankenswerterweise eine ziemlich wilde Mixtur von Settings, bucht keine melancholische Tour der Tränen durch lost places der untergegangenen Montan- und Industriekultur. Wo mit dem berühmten Wort von Joseph Roth die Städte durch den Rauch verbunden waren, arbeitet man ja jetzt am stadtübergreifenden Fahrradschnellweg durchs Grüne. Ein nah-utopischer Moment der Ausstellung ist deshalb der Wunsch der Gastgeber, dass doch die Kunst mit Fahrrädern bereist werden solle. Dafür wurde viel getan.

Die künstlerische Klammer der Arbeiten ist die Raumerfahrung. Es geht um Territorien, konkrete und gedachte Grenzen, Abgrenzungen, entsprechend oft auch um Migration, Bewegung, Veränderung. Wo verläuft die Mittellinie beim Fußball, wo die Grenze zwischen Körper und digitaler Repräsentation? Es gibt spielerische Antworten, wie etwa das hexagonale Fußballfeld für drei Mannschaften, das der schottische Künstler Roderick Buchanan nach einer Idee des Situationisten Asger Jorn installiert hat. Beim "SC 1920 Oberhausen" spielt man jetzt auf roter Asche auf drei Tore, und beim ersten Testspiel soll die Mannschaft der Kunstakademie Düsseldorf nicht gut ausgesehen haben. 

In Oberhausen, einer der ärmsten Städte Deutschlands, sind es dann nur wenige Meter zu weiteren eindrucksvollen Interventionen in den Alltag. Im Rathaus, Abteilung Einwohnermeldeamt, ist "Mein Name ist Sprache" von Nicoline van Harskamp zu sehen. Die Videoinstallation nimmt den bürokratischen und administrativen Umgang mit Namen in den Fokus. Eine extrem facettenreiche Meditation über das Übersetzen und das Normieren, über das Subjekt und seine Zuschreibung(en) und gleichzeitig über einen absurden Alltag, der hier am Ort stets präsent ist.

Ein verlorener Ort ist wenige Meter weiter zu entdecken. Durch ein Café hindurch gelangt man in den Kinosaal des Europa-Palastes. 1955 mit fast 1200 Plätzen eröffnet, 1985 geschlossen. Ein gespenstischer Ort, in dem Ariane Loze "Nein Weil Wir" zeigt. Die belgische Künstlerin hat hier im Kinosaal einen zwölfminütigen Film gedreht, darin spielt sie alle Rollen, liest eine Collage von historischen, philosophischen Texten über die Verantwortung. Dabei umtost im Film ein Sturm das als Schiff inszenierte Kino. Europa, ein Schiff, ein Sturm, wir die Mannschaft. Was tun? Eine sinnliche Exposition radikaler politischer Fragestellungen.

Eine ebenso wuchtige Vermengung von Theorie, Geschichte und Geografie gelingen Louis Henderson & Joao Polido auf dem Gelände der Opel-Fabrik in Bochum. Hier bespielen sie ein Gebäude, das neben dem Riesenraumschiff des neu angesiedelten DHL-Paketzentrums pittoresk anmutet. Ihre Soundinstallation, die ausgestrahlt wird von einer totemgleichen Soundsystem im durch Fensterfolie blauschimmernden Innenraum, ist nicht nur in der Musikhistorie verankert, sondern transportiert Technik-und Sozialgeschichte. Mitgebracht hatten die Künstler Musik englischer Arbeitsimmigranten, Dub, Soul, House, Jungle, Drum’n’Bass, dazu Samples von Streikreden und Demos auf der britischen Insel. Lipstick traces auf der Soundspur. Diese spielten sie in der großen letzten Fabrikhalle des Opel-Werks ab und nahmen die Echos, den Hall auf. Der Besucher der Installation hört nun auf dieser Aufnahme den Widerhall diverser sich überlagernder Geschichten. Eine massive Attacke auf die Sinne und ein lautes Statement zum Verhältnis von industriellem Kapitalismus und den Befreiungsversprechen der populären Musik.

Von dort ist es nicht weit zum Friedhof. In Bochum jedenfalls. Da in einer Trauerhalle, die im modernistischem Baustil in den 50ern entstanden ist und jetzt nicht mehr gebraucht wird, hat Ivan Moudov "The Pavilion" installiert. Die Idee entstand, als noch nicht klar war, ob es einen bulgarischen Pavillon in Venedig geben würde. Im wahren bulgarischen Beitrag in Bochum präsentiert der Künstler, der 2007 tatsächlich bei der dortigen Biennale antrat, eine Soundinstallation, in der 23 Künstler ihre möglichen Beiträge mündlich beschreiben. Ein vielleicht letzter, trotziger Triumph der Erzählung und der Imagination in einem Raum, der dem Andenken an Verlorenes gewidmet war.

An spannenden, aber weit weniger echofähigen Plätzen sind eher klassische Präsentationen zu sehen. Etwa Hans Eijkelboons pointierte Fotos zu "Urban Culture, Amsterdam – Düsseldorf – Milan" über die seriellen Semantiken von Streetwear, die Entdeckung der Malerin Margot Bergman in einer Auswahl im Museum Folkwang oder Stefan Marx' sehr großformatige Typo-Graffiti-Gemälden aus Songzitaten auf Hauswänden in drei der vier Städte.

In Ladenlokalen arbeiten auch Künstler. Henrike Naumann mit "Tag X" hochpolitisch über Prepper und Reichsbürger, die sie mit postmodernen Designobjekten kurzschließt. Und Köken Ergun in Essen über den Schönheitskult philippinischer Immigranten in Israel. Ein anderes Ladenlokal hat ein feministisches Kollektiv längst schon zum "Atelier automatique" umgebaut und in der Bochumer Subkulturlandschaft verankert. Das engagierte Team zeigt, dass Leidenschaft für ein Thema, Kritik und Ironie entgegen aller Vernunft doch vereinbar sind. "Emanzenexpress_Gemeinsam sind wir gemeiner" ist Archiv, Archäologie und lässige Distanzierung gleichzeitig und somit ein Paradebeispiel für Territorien in Raum und Zeit.

Ob die Hoffnung der Kuratorin in Erfüllung geht, dass beim Umherschweifen, beim Flanieren, beim Suchen der Projekte, ein ästhetisches und politisches Bewusstsein für den konkreten (Ruhrgebiets-)Raum entsteht, ist grundsätzlich offen. Angeboten werden viele Arten der Vermittlung, die passendsten nennen sich Irrlichter-Touren.