Sammlung Grässlin im Schwarzwald

Die von Kunst durchdrungene Stadt

Im unscheinbaren St. Georgen im Schwarzwald waltet eine der interessantesten Familien des Kunstbetriebs. Die Grässlins, früher bekannt für Zeitschalttechnik, füllen die Stadt mit großartiger Gegenwartskunst

Hoch wie eine Ampel hängt das "Grässlin"-Schild im Himmel, in modernistischer Groteskschrift auf Weiß mit Pfeil. Immer wieder sieht man es, das erste zeigt schon bei der Ankunft am Bahnhof die Richtung. Ansonsten, ehrlicher Eindruck: St. Georgen an der Brigach ist deutlich weniger idyllisch als es klingt. Siebzigerjahre-Flachbauten, Nachkriegsfassaden, öde Pastellfarben, Glas mit Stahl. Der Familienname Grässlin steht hier und in aller Welt für ein mittelständisches Unternehmen, früherer Weltmarktführer in Zeitschalttechnik. Für die Kunstwelt steht er für eine der interessantesten Famile des Kunstbetriebs, deren Ursprung man hier besuchen darf.

In der kleinen Bahnhofshalle sind zur Begrüßung statt Fahrplänen wilde Masken aufgeständert, sie reißen die Mäuler auf und gucken grimmig. Die Pappmaché-Köpfe "Me as you" von Tobias Rehberger sind an der alemannischen Fastnacht orientiert, sie sind originell wie Comicfiguren und unheimlich wie Voodoo-Puppen. Willkommen im Schwarzwald!

In einem Nebenraum hängen die charakteristischen Rehberger-Lampen aus Klettband, die sonst minimalistische Sammlungsarchitektur veredeln, hier aber vor spießigem Strukturputz in ganz anderem Licht erscheinen. Die exquisite Kunstsammlung der Familie Grässlin, die hier jährlich neu im gesamten Stadtraum ausgestellt wird, geht in den Gewerbe-Leerstand, den eine wirtschaftlich gebeutelte, ehemals strukturstarke Gegend heute so hervorbringt. "Die Kunst muss sich hier knallhart an der Realität messen", sagt Bärbel Grässlin vergnügt.

Drei Schwestern führen die Leidenschaft des Vaters weiter

Die Galeristin führt seit den 1980er-Jahren die bedeutendste Galerie in Frankfurt am Main, doch viel länger schon als sie mit Kunst handelt, sammeln sie und ihre Geschwister Kunst. Der Vater sammelte Informel. Als er plötzlich stirbt, sind die Kinder um die 20 und wollen seine Leidenschaft für Kunst fortführen. Eine Ausstellung in Stuttgart, die sie mit organisierten, gibt den Anstoß, sich in die damalige Kunst der Gegenwart zu stürzen, also nach Köln. Kippenberger, Oehlen. Die Grässlins besitzen Schlüsselwerke von beiden. Die jüngere Karola, heute mit Nachnamen Kraus, habe dann auf Cosima von Bonin und Kai Althoff gesetzt, die nächste Generation. Da hätte man sich auch mal gefetzt. Heute leitet sie mit untrüglichem Gespür das Museum Mumok in Wien.

Die dritte Schwester, Sabine Grässlin, ist in St. Georgen die Inhaberin des Restaurants Kippys, dort macht sie zum Mittag wundervolle Tagliatelle mit Pfifferlingen. Das Kippys ist natürlich nach Martin Kippenberger benannt, der von seinem Galeristen Max Hetzler hierher in die Provinz geschickt worden war, um sich mehr auf die Arbeit und nicht mehr so sehr aufs Feiern zu konzentrieren. Unterm Dach von Sabine hatte er sein Atelier.

St. Georgen ist durchdrungen von den Grässlins und ihrer Kunst. Gemälde der 1986 geborenen Alicia Viebrock hängen bei der örtlichen Kosmetikerin im Schaufenster, ein nachgebauter Porsche von Tobias Rehberger steht im ehemaligen Autohaus. Folgerichtig daneben: der Ford Capri von Albert Oehlen und Martin Kippenberger, mit hautfarbener Dispersionsfarbe und Haferflocken bestrichen. "Capri bei Nacht" von 1982. Flankiert von der "Orgon-Kiste bei Nacht", in die sie, dem Orgon-Prinzip von Wilhelm Reich folgend, Dinge eingesperrt hatte, die noch mehr Aufladung brauchten, um etwas zu werden, nämlich angefangene Leinwände.

Rowdyhafter Künstler-Humor

Es scheint ein bisschen, als hätten der rowdyhafte Künstler-Humor und die unkonventionelle Lässigkeit der Unternehmerfamilie sich gegenseitig orgonhaft auf eine höhere Energieebene katapultiert, eine Art anarchische Kernschmelze in der hügeligen Provinz, Sankt Georgen als Orgonakkumulator. "Jetzt geh' ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald" heißt die Kippenberger-Installation, in der die übergroßen Alka-Seltzer aus Holz zwischen künstlichen Birkenstämmen herumliegen.

Im Kunstraum Grässlin wird dem großen Franz West gedacht. Anwendbare Skulpturen, genannt "Passstücke", können hinter einem Umkleide-Vorhang am eigenen Körper ausprobiert werden. Berühren erwünscht. Draußen liegen drei "Sitzwusten", die wie überall auf der Welt den Ort, an dem sie sich befinden, zugleich veralbern und verfeinern.

Das ist so ein Prinzip. Wenn ein riesiges depressives Plüschtier von Cosima von Bonin im Rathaus über einer Balustrade platziert wird und da in die Versammlungen hinabzuspeien scheint, zum Beispiel. Jetzt sitzt es auf der großen Bonin-Rakete im höchst modern ausgebauten Untergeschoss des an sich altmodischen, schmucken Elternhauses der Grässlins. Hier lebte bis vor kurzem die Mutter. Nicht nur die Familie trauert, sondern jeder, der in der Kunst schon eine Weile unterwegs ist.

Durch die gesamte Stadt

"Hitparade", diese großartige Sammlungspräsentation in ganz St. Georgen, ist trotzdem eröffnet worden, die Kunst bringt einen auf andere Gedanken, und ohne wäre es noch trauriger. Es lohnt sich ausdrücklich, jeden einzelnen Ort anzusteuern. Die Sparkasse mit der kuriosen Markus-Oehlen-Skulptur. Die Gemälde und Masken von Günther Förg. Die fantastische Gemeinschaftsarbeit von Kai Althoff und Cosima von Bonin, die für Karola Grässlin eine ganze Wohnlandschaft einrichteten. Das ehemalige Verwaltungsgebäude mit Albert Oehlens grauen Bildern, einer sensationellen Gegenüberstellung von Georg Baselitz und Michael Krebber, und einem mannshohen Gefäß aus Ton, in dem Fischli-und-Weiss’ Fragen "Findet mich das Glück?" hineingeschrieben sind und man zum ersten Mal wirklich etwas wie ein Echo dazu entwickelt.

Bis vor einer Weile spielte zur Eröffnung jeder Grässlin-Schau die Blaskapelle. Der Trachtenverein mit den Bollenhüten war allerdings etwas gram, weil die Grässlins frevelhaft die Schwarzwald-Kopfbedeckung in unterschiedlichen Farben als Gestaltungselement für ihre Kataloge eingesetzt hatten. Inzwischen macht die Tourismusbehörde das allerdings selbst. Es gibt schon auch Beschaulichkeit. Klosterweiher, Schwarzwaldbahn. Die bringt einen wieder zurück in die nächste Stadt mit ICE-Anschluss. Im Bahnhofs-Schaufenster leuchten die Lampen von Tobias Rehberger, irgendwann gehen sie aus, und dann wieder an. Dank Zeitschaltuhren von Grässlin.