Vorschau auf die Berlinale

Schau' mir in die Augen, Bärchen!

Kann Kunst in kurzer Zeit einen Menschen verändern? Shirin Neshat hat diese Frage in einem Interview bejaht, aber keine Installation, kein Gemälde, sondern ausgerechnet das Werk des Filmemachers Andrej Tarkowski als Inspirationsdünger genannt. Keine Frage: Kino kann große Kunst sein. Glücklich, wer sie im Multiplex-Irrgarten noch findet.

Die Berlinale beginnt. Sie ist ein Dschungel, aus dem man nicht rausgeholt werden will. Hier wuchert alles kreuz und quer: Glamour, Politik, große Entdeckungen, enttäuschte Erwartungen und – bildende Kunst. Shirin Neshat hat mit ihren Fotos, Videoinstallationen und Spielfilmen gezeigt, wie fließend die Grenzen sind. Die Internationale Jury wird von ihrem Weitblick profitieren. Ob die vielseitige Iranerin und ihre fünf Kollegen um den Jury-Präsidenten Wong Kar-Wai (der mit „The Grandmaster“ auch den Wettbewerb eröffnet) in diesem Jahr eine Bären-Schneise durch eine so fantastische Auswahl schlagen müssen wie ihre Vorgänger in 2012? Abwarten.

Kunstfreunde werden sich auf der Wettbewerbsschiene „Camille Claudel 1915“ nicht entgehen lassen. Allerdings verkörpert Juliette Binoche in Bruno Dumonts Kammerspiel zwar die große Bildhauerin und Freundin Auguste Rodins, aber zur Kunst findet die 1915 in einer psychiatrischen Anstalt verwahrte Künstlerin nicht mehr. Kreativität als verkümmerndes Pflänzchen.

Aus dem Treibhaus der Kunst stammt auch Susanne Pfeffer, die scheidende Kuratorin der Berliner KunstWerke. Auf der Berlinale gehört sie der dreiköpfigen Kurzfilmjury an. Als Miniaturen sind die „Berlinale Shorts“, für die auch in diesem Jahr einer von zwei Goldenden Bären reserviert ist, der bildenden Kunst traditionell näher als die meisten Langfilmproduktionen.

In der Sektion Panorama finden sich allerdings zwei Dokumentarfilme über Kunst. Die in Teheran geborene Filmemacherin Mitra Farahani porträtiert in „Fifi Howls from Happiness“ den iranischen Künstler Bahman Mohassess, dessen nackte Bronzefiguren mit deutlich betonten Phalli schon während des Schah-Regimes Anstoß erregten und Zensurmaßnahmen provozierten. In Rom hat Farahani den Verschollenen ausfindig gemacht, filmt ihn bei seiner künstlerischen Arbeit und trifft auf zwei iranische Sammler, die ein neues Mohassess-Werk in Auftrag geben. Su Friedrichs Filmessay „Gut Renovation“ dokumentiert die Gentrifizierung des New Yorker Künstlerviertels Williamsburg seit 2005.

Während die Kreativität aus manchen Gebieten verschwindet, ist sie – stellt man sich das Filmfestival als virtuelle Megacity vor – im Forum Expanded zuhause. Zum achten Mal findet die experimentierfreudigste aller Berlinale-Sektionen statt. Aber was ist das, was sich nicht nur im Kino Arsenal, sondern auch an heterogenen Spielorten wie dem Krematorium Wedding, im Marshall McLuhan Salon der Botschaft von Kanada oder im HAU Hebbel am Ufer ereignet? „Zwischen Kino und Kunst hat sich längst etwas verselbstständigt, was noch immer namenlos ist“, so charakterisiert Leiterin Stefanie Schulte Strathaus die in der Sektion präsentierten „Arbeiten, die überraschen, weil sie überzeugen, ohne sich zuordnen zu lassen“.

Zentralfigur des diesjährigen Forum Expanded ist der 1980 verstorbene brasilianische Künstler Hélio Oiticica. Im Hamburger Bahnhof und im Salzwasserpool des Liquidroms (!) sind „Quasi-Cinema“-Installationen von Oiticica zu sehen, im Arsenal wird außerdem die Filmcollage „Hélio Oiticica“ seines Neffe Cesar Oiticica Filho uraufgeführt. Quasi-Cinema oder doch einfach großes Kino? Sehen wir dann auf der Berlinale.

63. Internationale Filmfestspiele Berlin, 7. bis 17. Februar