Rückblick 2019

Schmeiß' dein Ego weg

2019 war das Jahr der Kollektive in der Kunst. Wie kann das Gemeinsame in einem Betrieb bestehen, der auf der Idee des genialen Individuums basiert? 

Wissen Sie, wer Iswanto Hartono ist? Oder Zacharias Kunuk? Renata Cervetto? Tai Shani? Wahrscheinlich wäre keine der genannten Personen beleidigt, wenn die Antwort "nein" heißt. Und das, obwohl sie ziemlich prominente Positionen in der Kunstwelt besetzen und respektive die nächste Documenta kuratieren, den kanadischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2019 bespielt haben, die kommende Berlin-Biennale kuratieren und gerade den prestigeträchtigen Turner Prize gewonnen haben.

Die unbekannten Prominenten vereint neben ihren künstlerischen Verdiensten die Mitgliedschaft in einem Kollektiv. Iswanto Hartono gehört zum indonesischen Kunstkonglomerat Ruangrupa, Zacharias Kunuk zum kanadischen Inuit-Filmteam Isuma, Renata Cervetto verantwortet die Berlin-Biennale zusammen mit drei anderen Kuratorinnen und Tai Shani hat sich den Turner Prize mit den übrigen Nominierten einvernehmlich geteilt.

Vielköpfigkeit in der Kunst ist eines der vorherrschenden Phänomene der vergangenen Jahre - und zwar nicht auf die Art, dass jemand an der Spitze einer Gruppe steht und das ganze öffentliche Reden und Auftreten übernimmt (looking at you, Zentrum für politische Schönheit). Das Kollektive, wie man es gerade beobachten kann, hat nichts mit einer Background-Band für einen Star zu tun. Man könnte die antiautoritär gedachte Verteilung von kreativer Verantwortung auf ein Bedürfnis nach Vielstimmigkeit in der Kunst zurückführen. Ihr wollt verschiedene Perspektiven? Dann fragt doch einfach verschiedene Menschen, die sich gleichberechtigt gegenüberstehen. 

Kapitel einer postheroischen Erzählung

Obwohl das Konzept der kollektiven Kreativität in anderen Disziplinen sicher kein neuer Gedanke mehr ist (Naturwissenschafts-Nobelpreise gehen in der Regel an mehrere Forscher gemeinsam), ist er im Kunstfeld schon deshalb bemerkenswert, weil der ganze Betrieb auf der Idee von Genies aufbaut. Berühmtheit und Geld sind in einem ziemlich festen Knoten miteinander verzurrt. Kunstwerke erhalten ihren Wert dadurch, dass sie von ganz bestimmten Individuen geschaffen werden und man davon ausgeht, dass niemand anders sie produzieren kann. Und dass diese Tatsache anderen etwas wert ist. Der Kunstbetrieb lebt von Heldengeschichten und der Idee des von Inspiration durchzuckten Einzelnen. Nicht umsonst handeln gefühlt 89 Prozent der Künstlerfilme von einsam vor Leinwänden stehenden Männern und Frauen (meistens Männern).

Die Idee des Kunstkollektivs passt dagegen eher zu einer postheroischen Erzählung, in der jeder das zu einem Projekt beiträgt, was er oder sie kann und im Idealfall das beste aus vielen Welten zusammenkommt. Akzeptiert man beispielsweise die Investigativrecherche von Forensic Architecture als Kunst, macht die küssende Muse kleinlaut einer Ermittlungsarbeit Platz, die nur im Team möglich ist. Das kollektive Arbeiten führt zu einer anderen Art von Kunst, denn niemand profitiert davon, einen Pinsel herumzureichen und Malerei-Rundlauf zu spielen oder abwechselnd an einer Skulptur (oder einer Großausstellung) herumzuformen. Es sind vor allem die zeitbasierten Künste (Video und Performance), in denen Kollektivität funktionieren kann - und die - siehe minutenlange Abspänne bei Filmen - längst als gemeinsame Anstrengungen etabliert sind. 

Und immer wieder Einzelausstellung! Preis! Biennale! Auktionsrekord!

Beim Turner Prize 2019 haben sich die Nominierten Tai Shani, Oscar Murillo, Helen Cammock und Lawrence Abu Hamdan spontan entschlossen, den Preis als Kollektiv entgegenzunehmen, um sich gegen den sportlich anmutenden "Medaillenkampf" in der Hochleistungskunst zu verwahren. Denn natürlich sind es auch die Strukturen von Stipendien und Preisen, die ständig "Gewinner" und "Verlierer" produzieren und die Vereinzelung in kapitalistischer Logik vorantreiben.

Kollektive lassen sich also durchaus als Solidargemeinschaften in einem illoyalen Umfeld lesen, doch sie unterliegen genauso der Aufmerksamkeitsökonomie der Kunstwelt wie Einzelpersonen - und laufen Gefahr, kurzerhand zur homogenen Marke zusammengezogen zu werden. Solange der Kunstbetrieb als eine Abfolge von Einzelereignissen wahrgenommen wird, die alle vom symbolischen Kapital der Bekanntheit leben - Einzelausstellung! Preis! Biennale! Auktionsrekord! - werden auch Kollektive im Kampf um Sichtbarkeit mitkämpfen.  

Sichtbarkeit in der Kunst bedeutet Macht, egal auf wie viele Schultern sie verteilt ist. Und eine Möglichkeit, sie zu nutzen, ist, andere ebenfalls sichtbar zu machen, die dieses Privileg nicht besitzen. "Wenn du frei bist, ist es deine Pflicht, jemand anderen zu befreien", schrieb sinngemäß die 2019 verstorbene Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Die kommenden kollektiv kuratierten Großausstellungen (Berlin-Biennale, Documenta 15) werden mutmaßlich nach diesem Grundsatz funktionieren - und vielleicht ist das der effektivste Weg, die Aufmerksamkeit so weit wie möglich zu dezentralisieren.

Eine egofreie Zone wird die Kunst dadurch aber nicht. Denn unsentimental betrachtet gäbe es ohne die Idee von Außerordentlichkeit und Unersetzbarkeit auch keine Künstler.