Frau Langhoff, der kommende Herbstsalon, der siebte, wird auch Ihr letzter sein, Ihre Intendanz endet im kommenden Jahr. Gehen Sie mit einem lachenden oder einem weinenden Auge?
Es ist der letzte Berliner Herbstsalon als großes biennales Format am Maxim Gorki Theater. Ich habe ihn vor Beginn meiner Intendanz konzipiert und bis heute mit neuen Formaten immer weiterentwickelt. Die zukünftige Intendanz übernimmt, wie es aussieht, auch nichts Anderes aus meinem Programm oder Repertoire. Die Verträge von langjährigen Protagonist:innen des Ensembles und Teams sind bereits nicht verlängert worden, Nichtverlängerungen für weitere Kolleg:innen sind im Oktober zu erwarten. Die meisten von uns gehen mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Wir werden das Gorki, viele tolle Mitarbeiter:innen und unser wunderbares Publikum vermissen. Wir sind dankbar für den Gestaltungsraum, den wir in den vergangenen zwölf Jahren hier hatten. Wir haben ihn genutzt - und nicht nur einen wichtigen Ort für Berliner:innen geschaffen, sondern das Theater im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus beeinflusst und diversifiziert. Wir freuen uns auf die letzte Spielzeit, die wir wie die erste feiern wollen: politisch, poetisch, persönlich.
Sie haben 2013 mit dem ersten Berliner Herbstsalon Ihre Intendanz am Maxim Gorki Theater eröffnet. Was war die Idee dahinter?
Ich wünschte mir natürlich ein vielstimmiges Spektakel zur Eröffnung des Gorki und zum Umzug des postmigrantischen Theaters aus dem Ballhaus Naunynstraße in die Mitte der Stadt, umgeben von Institutionen der Nationwerdung. Das Gebäude des Gorki, 1827 fertiggestellt, ist der geschichtsträchtigste Theaterbau der Stadt. Hier war über Jahrzehnte die Sing-Akademie zu Hause. Mendelssohn-Bartholdy führte hier Bachs Matthäuspassion das erste Mal in einem weltlichen Gebäude auf; der Beginn der Bach-Renaissance. Am 25. Mai 1848 tagte in der Sing-Akademie erstmals ein aus freien Wahlen hervorgegangenes Parlament für Preußen, die preußische Nationalversammlung. Ein solcher Ort zwingt einen geradezu, auch andere Künste einzubeziehen. Daneben stand zudem das Palais am Festungsgraben im Landeseigentum – auch sehr geschichtsträchtig –, dessen historische Säle nicht bespielt wurden. Das ist das Eine.
Und das Andere?
Zu meiner kuratorischen Praxis am Theater gehörten die anderen Künste von jeher dazu. Als Kuratorin am HAU in meinem Festival Beyond Belonging ebenso wie als künstlerische Leiterin am Ballhaus Naunynstraße arbeitete ich interdisziplinär und ortsspezifisch mit bildenden Künstler:innen zusammen, die auch Performancekünstler:innen waren – wie Nevin Aladağ und Delaine le Bas. Beide sind inzwischen international renommierte Künstler:innen und auch beim aktuellen Herbstsalon mit mehreren Werken beteiligt. Ein Drittes kam hinzu: Widriger als zu meinem Antritt als Intendantin konnten die Bedingungen kaum sein.
Inwiefern?
Ich wurde sehr kurzfristig verpflichtet, das Gorki war finanziell extrem schlecht aufgestellt, mit strukturellen Defiziten. Jenseits des Kampfes um die kontinuierliche Erhöhung der landeseigenen Zuschüsse, um diese strukturellen Defizite zu schließen, musste ich seit 2013 jährlich mindestens 1,5 Millionen Euro Fördermittel einwerben, um künstlerische Vorhaben zu realisieren. Der auch aus dieser Not geborene Berliner Herbstsalon war mein erster von gefühlten tausendundeins Drittmittel-Anträgen zum künstlerischen Überleben am Gorki.
Haben Sie sich damals an anderen Biennalen orientiert? Gab es Vorbilder?
Herwarth Walden ist ein Vorbild, und sein erster und letzter Deutscher Herbstsalon 1913 ist eine große Inspiration. Ich habe meine Idee in Anlehnung daran demütig Berliner Herbstsalon genannt. Walden gilt nicht von ungefähr als einer der wichtigsten Förderer der deutschen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Eine Avantgarde, die bald darauf verfolgt, zerstört, ins Exil getrieben oder ermordet werden sollte. Wegen ihrer jüdischen Herkunft, ihrer freiheitlichen politischen Gesinnung, oder weil sie angeblich "entartete Kunst" betrieben. Sie sehen, wir haben allen Grund, beim Berliner Herbstsalon Geschichte persönlich zu nehmen. Wir schauen mit ihm auf die Gegenwart, um uns aufzumachen, von hier aus, aus der Mitte Berlins, nach einer besseren Zukunft zu suchen.
Und was unterscheidet den Herbstsalon von, sagen wir, der Berlin Biennale?
Vieles im Berliner Herbstsalon ist anders als in anderen großen Ausstellungen. Der Eintritt ist frei. Er findet im Herbst statt und orientiert sich an den Gedenktagen der Deutschen Einheit am 3. Oktober und dem Tag der November-Pogrome am 9. November, seit dem 6. Herbstsalon zudem mit einem Prolog im Frühling. Wir orientieren uns nicht am Kunstbetrieb und kalkulieren nicht mit Fachpublikum oder Tourist:innen. Es geht nicht darum, bei jedem Salon andere und neue Künstler:innen zu gewinnen. Im Gegenteil: mit vielen arbeiten wir kontinuierlich zusammen, wie es am Theater üblich ist. Es geht nicht darum, möglichst viele neue Werke zu produzieren – wobei wir auch das machen, oft mit unseren tollen Theaterwerkstätten. Aber wir wollen vor allem Kontexte für Begegnung und Diskurs schaffen. Und last but not least, Performance und Theater sind keine Nebensache, sondern stehen auf mehreren Ebenen im Zentrum.
Dass sich Museen fürs Theater und Tanz öffnen, kennt man – aber dass sich ein Theater so weit für die Kunst öffnet, kam in Berlin bis dahin nicht vor. Woran liegt das? Gibt es da immer noch Vorbehalte beim "deutschen Sprechtheater"; war die Kunstwelt damals schon internationaler?
Meines Wissens sind wir bis heute singulär in Berlin. Das Theater in Deutschland war und ist vor allem deutschsprachiges Repertoire- und Ensembletheater. Die Häuser arbeiten im Schichtbetrieb und zeigen jeden Abend ein anderes Stück. Die Struktur ist nicht auf Bildende Kunst und Ausstellungen ausgelegt. Deshalb ist auch jeder Herbstsalon eine Herausforderung für das Team und die Gewerke im Gorki, die sie jedes Mal meisterhaft schultern. Der Kunstbetrieb mit Galerien, Händlern und Sammlern bewegt sich zudem auch in einem anderen kommerziellen Kontext als die in Deutschland überwiegend staatlich geförderten oder gar gänzlich getragenen Theater.
Ihr Herbstsalon hat häufiger als andere Biennalen gen Osten geschaut, eine oft vernachlässigte Region. War das eine bewusste Setzung?
Das ist der Geschichte Berlins und seiner Realität mit Immigrant:innen zu verdanken, etwa aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion. Und dem genius loci der Häuser, die wir bespielten, allem voran das Gorki selbst, eine Gründung in der DDR. So spielte der Osten Deutschlands in den Auseinandersetzungen von Beginn an eine Rolle. Das Studio Я verwendet im Namen den kyrillischen Buchstaben Я, "Ich" auf Belarusisch, Russisch und Ukrainisch, und richtete von Anfang an den Blick gen Osten und auf die conflict zones in der Welt.
Worauf zum Beispiel?
Hier gab es schon Projekte, die sich mit dem seit 2014 andauernden Krieg im Donbass beschäftigten, als sich in Deutschland noch niemand wirklich dafür interessierte. Die gefälschten Wahlen in Belarus 2020 und der groß angelegte Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 lenkten noch einmal verstärkt den Blick gen Osten, und es gab zahlreiche Veranstaltungen und Projekte zu Belarus und der Ukraine am Gorki. Im Kontext deutscher Geschichte standen zudem Beschäftigungen mit Armenien oder Polen. Auch die Strecke von Berlin nach Istanbul, jene der größten Immigrant:innengruppe in Berlin, mit weiteren ehemaligen Ostblockländern auf dem Weg, war Gegenstand unserer Betrachtungen.
Thematisch ging es von Beginn an um Erinnerungskultur, Nationalismus, Migrationserfahrungen, den Umgang mit marginalisierten Gruppen. Was haben Sie mit dem Herbstsalon erreicht, welche Erkenntnisse ziehen Sie aus den letzten zwölf Jahren?
Das Theatergebäude, die ehemalige Sing-Akademie selbst, das Palais am Festungsgraben und das gesamte Areal um das Gorki herum bestehen aus historischen Schauplätzen, an denen Ideen von Deutschsein, von deutscher Nation geformt wurden. Dass sich moderne Nationen immer in Abgrenzung zu anderen definiert haben, führte nicht nur in Deutschland zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte, in denen der "Andere" kolonisiert, ausgegrenzt oder gänzlich vernichtet wurde.
Wie sieht ihre Idee vom Deutschsein aus?
Das Konzept des Gorki und bereits des Ballhaus Naunynstraße beruhte von Beginn an auf einer Vision eines Deutschlands der radikalen Diversität, eines, das jüdische und muslimische Perspektiven einschließlich queerer, afrodeutscher und weiterer Positionen als integralen Bestandteil der Gesellschaft begreift. Wir haben an dieser Vision gearbeitet. Als es hieß: "Wir schaffen das", haben wir ein "Wir machen das" mitformuliert. Wir haben Widerspruch geleistet und interveniert, als die immergleichen Reden von Leitkultur, Integration und Heimat immer wieder Hochkonjunktur bekamen und Allianzen mit anderen Demokratiebewegten gebildet. Es ging immer um Haltung, nicht um Herkunft. Wir haben multidirektionale Erinnerungsräume geschaffen, neue Narrationen in allen Sparten und sehr viele Autor:innen, Schauspieler:innen, Regisseur:innen, Künstler:innen und Dramaturg:innen gefördert. Diese sind in der gesamten Republik und darüber hinaus an verschiedenen Orten aktiv und tragen die kritische künstlerische Praxis weiter.
Wie blicken Sie auf die aktuellen politischen Entwicklungen?
Als wir am Gorki anfingen, war schon vieles im Argen, und doch schien die Gleichberechtigung und Partizipation der Vielen eine realistische Möglichkeit von Veränderung in und durch Kunst, Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu sein. Heute erleben wir Autoritarismus, Militarisierung und Faschismus, die wir an fernen Orten kritisierten, auf dem Vormarsch in Europa. Die Remigrations-Fantasien der Faschisten und Erzkonservativen in Deutschland hatte Mely Kiyak, unsere Kolumnistin und "Kassandra", schon ein Jahrzehnt vorher prophezeit. Die Kulturpolitik folgt der Politik im Allgemeinen, sie wird immer reaktionärer.
Was kann die Kunst in Zeiten des gesellschaftlichen backlashs ausrichten?
Ich weiß nicht, was die Kunst in diesen Zeiten ausrichten kann, aber ich weiß um die vielen Künstler:innen, die ihre Arbeit weitermachten; in Gulags und Gefängnissen wie Zehra Doğan, deren Werke aus der Haft wir auch im Herbstsalon ausstellen; im Exil wie Can Dündar, der auch im Herbstsalon vertreten ist, unter Zensur und Verfolgung oder im Krieg. Selbst in Konzentrationslagern der Nazis wie der Urgroßvater meiner Tochter, Wolfgang Langhoff, der zusammen mit Mitgefangenen im KZ Bürgermoor den "Zirkus Konzentrazani" ins Leben rief und das Stück "Die Moorsoldaten" inszenierte. Das Lied daraus ging um die Welt und empowerte nachfolgende antifaschistische Generationen. Angesichts dieser und anderer Vorbilder und dieses Wissens um Geschichte und Gegenwart kann ich nur Toni Morrison, ein weiteres Vorbild, zitieren: "Genau jetzt ist die Zeit, wenn Künstler sich an die Arbeit machen. Es gibt keinen Grund zur Verzweiflung, keinen Platz für Selbstmitleid, keine Notwendigkeit für Schweigen, keinen Raum für Angst. Wir sprechen, wir schreiben, wir bedienen uns der Sprache. So heilen Zivilisationen. Ich weiß, dass die Welt verletzt ist und blutet, und obwohl es wichtig ist, ihren Schmerz nicht zu ignorieren, ist es ebenso entscheidend, sich nicht ihrer Boshaftigkeit zu beugen. Wie das Scheitern enthält auch das Chaos Informationen, die zu Wissen führen können – sogar zu Weisheit. Wie die Kunst."
Was haben Sie sich für die letzte Ausgabe des Kunstherbstes vorgenommen?
Es gab seit meinem Antritt als Intendantin 2013 immer wieder Menschen, die das Maxim Gorki Theater als "rotes Haus" beschimpften. Für uns ist es ein Ehrentitel. Schon die Sing-Akademie war revolutionär. Sie war die erste Chorvereinigung, in der Männer und Frauen zusammen sangen. Weltweit. Zum Abschied habe ich neben dem Ensemble über 100 weitere, meist langjährige Weggefährt:innen dazu eingeladen, mit alten und neuen Werken die kritischen Kunstpraxen, die Kämpfe und Widerstände, die in den vergangenen zwölf Jahren verhandelt wurden, im Angesicht der Gegenwart kritisch zu reflektieren, neu einzuordnen und für die Zukunft zu reimaginieren.
Wie kann das aussehen?
Die fortlaufende kollektive Recherche nach den Bewohner:innen des Telefunken-Wohnheims in der Stresemannstraße 30 – dem Roten Haus im Berlin der 60er – und ihren Geschichten bildet das Herzstück des Herbstsalons. Wir zeigen sie in einer ersten dokumentarischen Bestandsaufnahme in der Ausstellung "Stresemannstraße 30 – Inventur 2025". Die Aktivistin, Schneiderin und Sozialarbeiterin Filiz Taskin war wie die preisgekrönte Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar Fabrikarbeiterin und eine der Bewohnerinnen jenes Hauses. Gespräche mit weiteren Bewohner:innen, ebenso wie Motive aus den Büchern Emine Sevgi Özdamars, sind auch die Basis der Inszenierung "Das Rote Haus" von Ersan Mondtag, mit dem wir das Theaterprogramm des Herbstsalons eröffnen. Er und Emine Sevgi Özdamar sind auch mit eigenen Werken in der Ausstellung vertreten.
Und sonst?
Viele der Arbeiten im Herbstsalon folgen biografischen Spuren und untersuchen Räume der Zusammenkunft und Gemeinschaft, die freiwillig gewählten und die erzwungenen, ihre Zerstörung ebenso wie ihre Kraft: vom Theater bis zum Gefängnis, vom Zuhause bis zur Schule, von Shisha-Bar bis Zugabteil, von Fabrik bis Wohnheim. Immer wieder geht es um Gemeinschaft, die temporär und ephemer sein kann wie das Publikum einer Vorstellung im Theater und solidarisch wie Frauen in politischen Gefängnissen. Das zeigt sich etwa in Arbeiten von Zehra Doğan, im Chor als Polis bei Marta Górnicka, in der Kraft einer Künstlerfamilie bei den Le Bas oder in einer neuen Gemeinschaft von Danica Dakić.
Und wie geht es für Sie beruflich weiter?
Darüber kann ich noch nicht sprechen. Ich habe aber auch noch eine ganze Spielzeit am Gorki, und der möchte ich mich in Vorfreude auf die vielen schönen Projekte mit weiteren spannenden Künstler:innen voll und ganz widmen. Wie in den vergangenen zwölf Jahren werden wir auch in dieser Spielzeit nahe und ferne Vergangenheiten und Weltgegenden aufsuchen, um neue Wege ins wirklich Unbekannte und Neue auszukundschaften: in die Zukunft. Dorthin möchte ich gemeinsam mit den Künstler:innen und dem Publikum aufbrechen, und ihr widmen wir diesen 7. Berliner Herbstsalon.