DORIS ZIEGLER: ‘NICHT_OHNE_EINANDER’

So wichtig wie das, was Doris Ziegler auf ihren Bildern malt, ist das, was sie nicht malt. Abwesenheiten und Leerstellen kennzeichnen ihre Gemälde. Plätze sind ohne Menschen, ein Thron ist leer, Räume haben kaum Möbel, in einer Landschaft scheint keine Sonne. Immer fehlt etwas. Ohne ein Gefühl des Vermissens lassen sich ihre Bilder also nicht betrachten. Und man stellt sich einen früheren Zustand vor, in dem das Fehlende noch anwesend, in dem die Welt noch in Ordnung war. So spürt man einen besonderen Ernst und möchte zumindest verstehen, warum etwas verschwunden sein könnte.
Nicht immer jedoch ist es unheimlich, dass etwas fehlt. Manchmal wird der Blick dadurch auch auf eine Verbindung oder Abhängigkeit gelenkt. Besonders subtil gelingt Doris Ziegler das bei dem Gemälde, das der Ausstellung ihren Titel gibt. „Nicht ohne einander“ (2023) besteht aus zwei Hälften mit einem jeweils eigenen Bildraum; in jedem steht eine Figur, offensichtlich in beiden Fällen die Künstlerin, erkennbar an Malerutensilien. Doch während die eine Figur eine Palette in der rechten Hand hält, hat die andere einen Pinsel in der Linken. Malen können daher beide nicht: die eine hat nur die Farben, die andere nur das Werkzeug. Also gehören beide Figuren zusammen und können nur gemeinsam – nicht ohne einander – sein.
Es geht dabei nicht zuletzt um eine Einheit der Gegensätze. Denn während die eine Figur bekleidet ist, ist die andere nackt, abgesehen von einem Hut, den beide tragen, und einer Maske über Augen und Nase, mit der die Nackte ihre Intimität schützt. So wie die Malerin Palette und Pinsel braucht, braucht sie also sowohl einen Körper als auch eine Rolle in der Gesellschaft, ist auf sich und den eigenen Leib zurückgeworfen und zugleich Teil einer sozialen Welt voller Codes und Kommunikation. Dabei ist es eine starke Geste von Doris Ziegler, ja das eindrucksvolle Signal eines künstlerischen Autonomieanspruchs, dass sich auf der Palette gerade die Farben befinden, in denen auch ihre Kleidung gehalten ist: Als könnte und wollte die Künstlerin selbst darüber entscheiden, welche Rolle sie einnimmt.
„Nicht ohne einander“ gehört in eine lose Serie von Gemälden, in denen Doris Ziegler in verschiedenen Phasen ihres Werks „das Motiv der ‚Doppelgängerin’“ aufgegriffen hat, wie das die Kunsthistorikerin April A. Eisman bezeichnet und so gedeutet hat, dass die Künstlerin dabei in jeweils anderer Weise ihre „Identität als Frau und Malerin [...] in Frage [ge]stellt und reflektiert“ habe (April A. Eisman: „Im doppelten Blick“, in: Paul Kaiser (Hg.): Doris Ziegler. Das Passagen-Werk, Weimar 2020. S. 149). Geht es in früheren Bildern der Serie etwa um Zieglers Rolle als Mutter oder als Tochter, konzentriert sie sich nun ganz auf sich selbst als Künstlerin. Sie zeigt sich zweimal als Einzelfigur, und auch in dieser Abwesenheit anderer Figuren könnte man wieder eine Leerstelle sehen. Muss die Künstlerin allein sein, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren? Oder ist sie einsam? Entsteht ihr Werk gar aus der Erfahrung existenzieller Einsamkeit heraus? Aus dem Wissen um Endlichkeit, Vergänglichkeit, Tod?
Tatsächlich lässt das, was auf Doris Zieglers Gemälden fehlt, oft direkt an den Tod denken. Zugleich erweist sie sich dabei als souverän im Umgang mit der Kunstgeschichte, etwa mit der Gattung des Stilllebens, in der ja seit dem 17. Jahrhundert wieder und wieder Vergänglichkeit – vanitas – in Szene gesetzt wurde. Schon weit heruntergebrannte oder frisch gelöschte Kerzen (mit noch rauchendem Docht) waren etwa ein beliebtes Symbol. In Doris Zieglers „Stillleben vor rosa Wand“ (2020) sieht man am rechten Bildrand ebenfalls einen Kerzenstummel. Vier weitere, sehr unterschiedliche Kerzenhalter auf dem Bild sind jedoch leer: ohne Kerze. Die Vergänglichkeit wird von ihr damit radikaler gefasst als in der langen Tradition des Stilllebens. Und bei so viel Abwesenheit ist der Tod umso anwesender.
Text: Wolfgang Ullrich