Harding Meyer | Audience
(…) Harding Meyer ist er vor allem für seine Porträts von Modellen aus den Massenmedien bekannt, deren Gesichter so beschnitten sind, dass der Fokus zwischen dem Haaransatz und dem Kinn liegt. Indem er eine frühere, abstrakte Werkphase hinter sich gelassen hatte und Familienfotos als Quelle für Motive zu verwenden begann, fand Meyer damit einen Weg, die menschliche Physiognomie in den Fokus zu nehmen. „Ich musste gar nicht nach Modellen suchen“, so erinnerte er sich unlängst, „mir ist schnell klar geworden, dass das Malen einer unbekannten Person mir die Freiheit gab, meinen eigenen Stil zu entwickeln.“ Das Ableiten seiner Bilderwelt aus der Werbung, aus Modemagazinen und dem Internet, aber auch von Stills aus Talkshows, weist eine gewisse Affinität zu Andy Warhol auf, der in seinen Siebdruckgemälden vorgefundenes Bildmaterial monumentalisierte und so der kollektiven Erinnerung überantwortete. Man könnte in Meyers Porträts den Versuch am Werk sehen, den Dargestellten zu eben den „fifteen minutes of fame“ zu verhelfen, von dem Warhol einmal sprach. Als Bilder, die von der Kunst aus der Flut visueller Informationen, in der unsere Wahrnehmung der Realität zu versinken droht, gerettet wurden, kann man seine in den Massenmedien gefundenen Modelle jedoch auch von einem ganz anderen Standpunkt aus betrachten.Doch auch wenn Meyer, wie Warhol vor ihm, auf fotografische Quellen zurückgreift, sind die Herangehensweisen der beiden Künstler sehr verschieden. Nur wenige der von Warhol Dargestellten waren Unbekannte. Als kränkliches Kind immer wieder lange Zeiten ans Bett gefesselt, wurde er zu einem leidenschaftlichen Leser von Filmzeitschriften. Es ist daher nicht überraschend, dass Stars und Prominente wie Marilyn Monroe, Elizabeth Taylor, Judy Garland, Marlon Brando, Mick Jagger, Elvis Presley und Jackie Kennedy zu seinen bekanntesten Modellen gehörten – zusammen mit Mickey Mouse und Mao Zedong.Meyers Modelle sind hingegen nicht nur Namenlose. Viele der Porträtierten sind zudem seine eigenen Geschöpfe. Sie sind (oft) aus mehreren Vorlagen zusammengesetzt und mit verschiedenen elektronischen Bildbearbeitungsverfahren bearbeitet. Auch hier kann man in dem, was Warhol einmal seine romantische Vorliebe für Tonband, Polaroid und Filmkamera nannte, einen Vorläufer ausmachen. Meyers Erkundung medialer Wahrnehmungsprozesse zeigte sich in seiner Installation der In-direct-Bilder, die 2011 im Kunstverein in Emstetten zu sehen war. Gerhard Charles Rump widmete sich in seinem Aufsatz „Negationen der Positivität“ dem Zusammenspiel des Videos mit negativen und positiven Bildern öffentlicher und privater Quellen vor dem Hintergrund von Meyers Gemälden. Dieses konzeptuell-perzeptive Experiment beschrieb Rump als eine Erkundung der Metarealität.Die ästhetischen Strategien von Addition und Subtraktion, von Verdecken und Enthüllen, tragen wesentlich zu der enigmatischen Qualität der Porträts von Harding Meyer bei. Auf den ersten Blick wirken die Porträtierten sonderbar bekannt, vielleicht sogar vertraut, doch fallen sie schnell wieder in die Anonymität zurück. Unnahbar und fremd verbreiten sie eine geheimnisvolle Aura selbstversunkener Verinnerlichung, die den scheinbar ausdruckslosen Gesichtern zuwiderläuft. Es entsteht der Eindruck, als wären diese Gesichter zugleich mit einer scharfen und einer weichen Fokussierung aufgenommen worden. Dergestalt verbinden sie die gegenstandsgetreue Darstellung mit einer Idealisierung – wobei sich Letzteres als ein etabliertes künstlerisches Verfahren des Porträts als Gattung der Malerei erweist. Die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel hat in ihrem Buch Grammatologie der Bilder (2008) dafür plädiert, dass sich das En-face-Porträt im Gegensatz zu der populäreren Dreiviertelansicht oder dem Halbprofil aus der Tradition antiker Theatermasken entwickelt habe, die eine von dem sie tragenden Schauspieler vollkommen unabhängige Figur verkörperten. (…)
David Galloway in: PENTIMENTI REDUX