Sine Hansen in Braunschweig

Aliens in der BRD

Die Bilder der 2009 verstorbenen Malerin Sine Hansen sind von Konstruktivismus und Technologie der westdeutschen Nachkriegsmoderne geprägt. Trotzdem sind ihre Werke, die nun in Braunschweig zu sehen sind, völlig einzigartig

Sine Hansen hatte einen Traum. Oder besser, zwei. Als Malerin träumte sie davon, eine noch völlig unentdeckte Farbe zu finden. Und dann war da ein zweiter, immer wiederkehrender Traum, der sie jahrelang verfolgte. Darin betrat sie eine Galerie, in der Bilder in ebenjenem unbekannten Ton hingen. Beim Betrachten wurden die Besucher und Besucherinnen reihenweise in den Wahnsinn getrieben und stürzten sich von einer Empore. 

Ihre seltsame Malerei, die seit den 1960er-Jahren entstand und sich in den 1970er-Jahren weiterentwickelte, ist von Zangen, Scheren, Glühbirnen, runden, fragilen Eiern bevölkert. Da sind Werkzeuge und Alltagsgegenstände, die ganz im Stil der Zeit grafisch reduziert, wie Piktogramme, erscheinen. Zugleich ähneln sie Cyborgs, Robotern, Aliens. Sie sind bizarre, industrielle Wesen, die farbig strahlen, flächig oder fast auratisch wie unter Wärmekameras. Formen, die liegen, greifen, schneiden, wie auf Zehenspitzen tanzen, die vor monochromen Farbflächen mechanische, manische Ballette und Performances aufführen. 

Diese Motive sind streng, reduziert und auf paradoxe Weise zugleich exzentrisch und gefährlich. Ihre Zangen, die Arme oder Schnäbel sein könnten, haben etwas Chirurgisches. Sie scheinen immer kurz davor, etwas abzuschneiden oder herauszuoperieren.

Der Geist der Nachkriegskunst

Der Braunschweiger Kunstverein, in dem die erste institutionelle Hansen-Retrospektive seit ihrem Tod noch für einige Tage zu sehen ist, hat etwas ziemlich Außergewöhnliches geleistet. Die Direktorin und Kuratorin der Ausstellung, Cathrin Meyer, hat nicht nur damit begonnen, das Werk einer in Vergessenheit geratenen Künstlerin neu zu bewerten, deren Biografie eng mit Braunschweig verbunden ist. Sie hat auch einen missing link entdeckt: eine Position, in der sich der Geist der Nachkriegskunst, der Studentenrevolte, des Feminismus und der sozialen bundesrepublikanischen Utopien widerspiegelt - aber auch auf eine einmalige Weise der Wahnsinn und das Abgründige dieses Neuanfangs. 

"Merkmale meines Produzierens liegen in der Kontrollierbarkeit der Aggressivität", schreibt Hansen 1970. "Gegenstände dieser Konzeption sind Träger bestimmter Informationen. Zu Zeichen gewordene Gegenstände werden aus ihrer herkömmlichen Umgebung auf eine Ebene projiziert, auf der sie in einer ihnen ungewohnten Weise fungieren." Man spürt in dieser Sprache den Einfluss von Minimal und Konzeptkunst, den Versuch, ihre Malerei theoretisch zu untermauern, ihr ein System zu geben. Es ist ihr dabei wichtig, dass sie von der Subjektivität, von einer biografischen oder feministischen Lesart wegkommt. Sie will hin "zur Anonymität". 

Was da aber in ihrer Malerei zutage tritt, ist nicht nur ein formales Experiment, ein Dialog mit Hard Edge oder Pop Art. In dieser bunten, kontrollierten Welt auf der Leinwand kommt auch etwas anderes zum Vorschein, etwas Outsider-haftes, Visionäres, Verstörendes: der kollektive Wahnsinn der technikversessenen Nachkriegsgesellschaft, die nach Vernichtung und Schrecken wieder Harmonie und Kontrolle will. Eine neue, an Wissenschaft, Technik und sozialem Fortschritt orientierte Industriegesellschaft, die versucht, die Gewalt des Krieges, die Naziherrschaft, die "belastete deutsche Vergangenheit" durch Rationalität zu überwinden.

Eine Glühbirne, die auch ein Hodensack sein könnte

Hansen, 1942 noch im Zweiten Weltkrieg in Polen geboren und in Husum aufgewachsen, kommt 1961 zum Malerei-Studium nach Braunschweig, wo sie (bis auf wenige Arbeitsaufenthalte in Amsterdam und Paris) bis zu ihrem Tod 2009 lebt und arbeitet. Der historische Kern der niedersächsischen Stadt wird 1944 von den Engländern fast völlig zerbombt - eine Ausnahme ist die Villa Salve Hospes, die inzwischen den Kunstverein beherbergt. Braunschweig ist ein Paradebeispiel für den deutschen Wiederaufbau. Dieser gestaltete die Stadt funktional, rational, oft mit viel Beton, im knallharten Stil des Brutalismus. Der Großteil von Hansens Karriere fällt in diese Zeit, als das "neue Braunschweig" entsteht. Mitte der 1970er-Jahre flacht ihr Erfolg ab, als sie Kunstlehrerin wird und in der Schule gleich gegenüber des heutigen Kunstvereins unterrichtet. 

Die Ausstellung, die nun in einer eigens umgestalteten Architektur der Kunst viel Platz lässt, beginnt mit frühen Werken, die noch im Studium an der HBK Braunschweig entstanden sind. Sie wirken fröhlich, fast ein bisschen satirisch. "Ruhrfrühling" (1964) zeigt eine riesige Baggerschaufel, die eine zarte Blume "pflückt", "Osramkneifer" aus demselben Jahr besteht aus einer Zange, die nach einer stilisierten, tropfenförmigen Glühbirne schnappt, die auch ein Hodensack sein könnte. 

In den Sixties gilt Hansen, zumindest in Westdeutschland, als upcoming, eine Art Wunderkind. Sie entwirft ihre modische Kleidung selbst, stylt sich völlig eigenwillig, macht ihre Wohnung mit Sitzlandschaften aus Schaffell zum Gesamtkunstwerk. Und sie beginnt, Werkzeug und industriell genormte Alltagsgegenstände zu sammeln. Sie zeigt ihre Malerei in vielen regionalen, aber auch hochkarätigen Ausstellungen, etwa 1967, als sie im Württembergischen Kunstverein mit Georg Baselitz, Sigmar Polke und Gerhard Richter in einer Schau mit wichtigen Positionen einer neuen Figuration präsentiert wird.

Die transzendenten und spirituellen Utopien

Fast immer ist sie die einzige Frau. Auf Fotos in der Ausstellung sieht man sie im Look der Sixties bei einem Fernseh-Dreh mit dem Maler Georg Karl Pfahler, dem prominentesten Vertreter des deutschen Hard Edge. Es geht Pfahler, genau wie Hansen, nicht um eine analytische, optische, geometrische Farbfeldmalerei, nicht um das rein formale Spiel mit Flächen und Schnittstellen, sondern um Stimmungen, eine intensive, aufgeladene Raumerfahrung. Und die soll in ihrer Abstraktion durchaus etwas mit der realen Welt, einer neuen, besseren Gesellschaft zu tun haben. 

Dieser fortschrittliche Gedanke geht auf die konstruktivistischen Bewegungen der frühen Moderne zurück, auf das Bauhaus in Deutschland, die russische Avantgarde oder De Stijl in den Niederlanden. Sie ist eng verbunden mit den großen, zumeist linken, aber auch transzendenten und spirituellen Utopien dieser Moderne. Doch nach dem Holocaust und dem Grauen des Weltkriegs hält man sich lieber an das Greifbare, Machbare. In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren herrscht in der Bonner Republik eine aufgeklärte, materialistische Ausprägung der gegenstandslosen Kunst vor, deren spirituelle Dimension weitgehend durch mathematische Harmonie und Begeisterung für Technologie und Wissenschaft ersetzt wurde.

Ganz entscheidend für die Idee einer rationalen Ausrichtung der abstrakten Kunst sind die "Zürcher Konkreten" um Richard Paul Lohse und Max Bill, die mit der Hochschule für Gestaltung in Ulm das Design der Bundesrepublik maßgeblich prägen. Fast alle geometrischen Künstler in den 1970er-Jahren malen nicht nur einfach Bilder, sondern gestalten Hochschulen, Skulpturen im öffentlichen Raum, Inneneinrichtungen, Architekturen, Farbleitsysteme, Firmenlogos. Oder die berühmte Aldi-Tüte wie Günter Fruhtrunk.

Das Schweigen der Väter wird zu "Kunst am Bau"

Bei dieser kulturellen Revolution spielen konstruktivistische und konkrete Kunst eine enorm wichtige Rolle. Die Debatten können noch so erhitzt sein, die Männer der deutschen Moderne und Nachkriegsmoderne, die Krieg und Naziterror überlebt haben, gestalten eine kühle, moderne Welt. Darin werden Abstraktion und der Verzicht auf sprachlich übersetzbare Inhalte in der Kunst selbst zur politischen Aussage. Das Schweigen der Väter wird zu "Kunst am Bau". Eine neue Gesellschaft wird erzogen. Und zu der visuellen Sprache, mit der sie unterrichtet wird, gehören auch Piktogramme. Kinderbücher, Trimm-Dich-Pfade, Flughäfen – die ganze Welt ist voller Bildchen, die auch als Pril-Blumen-Sticker bundesdeutsche Küchen überwuchern. 

Sine Hansen teilt diese Begeisterung für Technik und Wissenschaft, die Orientierung durch die entsprechende Kunst. Aber etwas ist anders in ihrer Welt. "Zu Zeichen gewordene Gegenstände" nennt sie die paradoxen Motive ihrer Bilder und schreibt, dass sie sich "durch die Dialektik irrationaler Ordnungssysteme in imaginären Räumen" vermitteln. Für sie dienen sie als "Medium der Bedrohung und des gleichzeitigen Gefährdetwerdens". Dieses "in Gefahr bringen" steht im krassen Gegensatz zu dem Gefühl der Sicherheit und Kontrolle, das die männliche abstrakte Kunst damals vermitteln will. 

In den 1970ern bekommt sie durch einen Bekannten in der Technischen Universität Zugang zu einem Polarimeter, das mechanische Spannungen in Festkörpern durch polarisierendes Licht sichtbar macht. Das heißt, bunte, auratische Linienformen zeigen etwa bei einer Zange, wie sich der Druck auf das Werkzeug oder das Objekt, das es einklemmt, verteilt. Hansen entwickelt auf der Grundlage von wissenschaftlichen Aufnahmen in den 1970ern eine extremere, fast psychedelische Malweise. 

In fremden Zangen sprechen

Wie auf "Spannungszange" (1974) oder "Schreitende Zange" (1975) werden ihre Wesen schärfer, gefährlicher, tänzerischer, halten wie auf "Papageienzange" (1977) fragile Kugeln, Eier oder Scheiben in ihren Scheren fest. Sieht man sich diese Bilder heute an, verbinden sie sich mit Assoziationen zu künstlicher Befruchtung, Schwangerschaftsabbrüchen, chirurgischen Experimenten. Sie entstehen, als die Debatten um Abtreibung, RAF-Terror, sexuelle Befreiung und faschistische Vergangenheit die deutsche Gesellschaft spalten. 

Hansens poppige Gemälde haben etwas unheimlich Organisches, fast Archaisches, das sich wie das Monster in Ridley Scotts "Alien" (1977) in die schöne Helligkeit der techno-industriellen Welt einschleicht. Zugleich ist da immer dieses Zarte, das von mechanischer Gewalt bedroht erscheint: die Blume, das Ei, das heranwachsende Leben, das zur Beute, zum Objekt für Experimente oder spielerische Grausamkeit wird. Hansens fremde, schrecklich witzige Zangen verkörpern Traumata, die nicht in den Alltag eindringen, sondern schon da waren, erst jetzt wirklich durch die Malerei gesehen werden. 

Diese Ambivalenz zwischen Modernem und Verdrängtem ist atemberaubend. Und sie geht der Künstlerin in den späteren Jahren, als sie ziemlich normale, an Op-Art erinnernde Labyrinthe malt, verloren; wie ein aufmüpfiger Geist, der das Haus verlassen hat. Wer kann, sollte sich diese Ausstellung, die noch bis zum 5. Oktober läuft, anschauen. Sine Hansen, die vor mehr als 15 Jahren fast vergessen in Braunschweig starb, sollte trotz ihres überschaubaren Œuvres in die Kunstgeschichte eingehen, weiter von Institutionen gesammelt und erforscht werden. Vor diesen Bildern zu stehen, hat etwas Befremdliches – gerade, weil sie nach all diesen Jahren so modern, so unverschämt ungeklärt und unheimlich aussehen.

Insta-Note: 9/10