Millionen ziehen durch die Sixtinische Kapelle, im Einbahnstraßensystem der Vatikanischen Museen; schauen nach oben, um den Finger zu entdecken, mit dem der Herrgott seinen Adam zum Leben erweckt. Eigentlich berührt er ihn gar nicht, auch ist Adam schon vollständig da, und der Finger scheint zu sagen: Hier, das ist der Mensch, mit dem es die abendländische Kultur mit und seit der Renaissance zu tun hat. Kein willfähriges Geschöpf, sondern ein Individuum.

Michelangelo "Die Schöpfung Adams", um 1512, Sixtinische Kapelle, Rom
Der Blick gleitet über die Stirnwand hinweg, mit dem "Jüngsten Gericht", was immer das heutigen Besuchern noch besagen will. Auf jeden Fall sind da die Erlösten, vom Betrachter aus zur Linken, die zum Himmel aufsteigen, und zur Rechten die Verdammten, die zur Hölle hinab fahren. Was für ein Spektakel in diesem einen Fresko, und dazu die Bilder an den Seitenwänden, stilistisch so ganz anders, weil Jahrzehnte früher gemalt, wie jeder Reiseführer seiner Gruppe mitteilt.

Michelangelo "Jüngstes Gericht", um 1536-41, Sixtinische Kapelle in Rom
Nur jetzt gerade ist mal eine Pause im Touristenverkehr, weil die Kapelle, also die Hauskirche des Vatikan-Palasts, für einen anderen, nobleren Zweck gebraucht wird: für das Konklave, die Wahl eines neuen Papstes. Keiner weiß, wie lange es dauert, bis der weiße Rauch aufsteigt, der die erfolgreiche Wahl ankündigt, sodass bald darauf wieder der übliche Besucherverkehr einsetzen kann.
Die Sixtinische Kapelle ist eine der herausragenden Schöpfungen der Renaissance. Das Gebäude selbst ist schlicht, ein aufrecht stehender Kasten, gebaut nach Maßen, die das Alte Testament zum Tempel Salomos angibt, diesem zweimal in gleichen Dimensionen errichteten, zweimal zerstörten Heiligtum der Israeliten. An dieser Analogie wird deutlich, welchen Anspruch Papst Sixtus IV., der den Bau der vatikanischen Kapelle anordnete und nach dem sie benannt ist, unterstrich: Rom als das neue Jerusalem. Als die Kapelle zwischen 1475 und 1483 errichtet wurde, gab es den heutigen Petersdom noch nicht, Alt Sankt Peter hingegen stand seit über 1000 Jahren.

Schlichtes Äußeres: Die Fassade der Sixtinischen Kapelle in Rom
Ab 1481 konnten die Seitenwände gestaltet werden, die Südwand mit dem Leben Mose aus dem Alten Testament, die Nordwand mit solchen des Lebens Christi aus dem Neuen Testament. Botticelli, Perugino, Ghirlandaio und Signorelli sind die heute geläufigsten Künstler. Sie kamen aus Florenz oder hatten dort gelernt – dort kam die Renaissance zu ihrer ersten Blüte.
Doch das Gewicht verlagerte sich in die Papst-Stadt, zumal unter Julius II., dem Renaissance-Papst schlechthin. Er beauftragte Michelangelo Buonarroti (1475 -1564) mit dem Deckenfresko, das dieser zwischen 1508 und 1512 ausführte, vermutlich gänzlich eigenhändig, was angesichts der Größe und der Zahl von 150 überlebensgroßen Figuren eine schier übermenschliche Anstrengung bedeutete.
Julius II. war es, der ab 1506 den neuen Petersdom zu bauen anordnete, wovon der Papst selbst, er starb bereits 1513, kaum nur die allerersten Anfänge gesehen hat. Sein Nach-Nach-Nachfolger Clemens VII. ließ mehr als 20 Jahre später das "Jüngste Gericht" vom nun schon über 60-jährigen Michelangelo ausführen und so die Ausmalung der Kapelle bis 1541 vollenden.
Der Inbegriff des "Abendlands"
Michelangelos Ausstrahlung auf die Kunst seiner und der folgenden Generationen war ungeheuer. Seine Darstellungen prägten die Art und Weise, wie Menschen im sogenannten Abendland gesehen wurden, in ihren Formen wie in ihren Bewegungen. Der theologisch-philosophische Gehalt der Fresken ist darüber in Vergessenheit geraten, allenfalls mit dem Motiv des Jüngsten Gerichts kann man in der Dichotomie von Gut und Böse, von Erlösten und Verdammten etwas anfangen, nicht jedoch mit Propheten und Sibyllen und ihren Weissagungen.
Im Laufe der Jahrhunderte dunkelten die Fresken nach, elektrisches Licht gibt es auch erst ein paar Jahrzehnte. Ab 1980 gab es eine umfangreiche Restaurierung, finanziert von einer japanischen Fernsehgesellschaft, die sich dafür die Bildrechte sicherte und über jeden Pinselstrich berichtete.
Seither leuchten die Farben wieder so, wie sie es im 16. Jahrhundert getan haben mögen. Dass der Meister seine Figuren in antikischer Nacktheit dargestellt hatte, ließ sich allerdings nicht wiederherstellen – die entsprechenden Übermalungen einer weniger sinnenfrohen Zeit nach Michelangelos Tod 1564 waren auf neuem Putz angelegt worden, darunter war nichts Ursprüngliches erhalten.
Mit der heutigen Welt immer weniger zu tun
Die 135 Kardinäle, die sich jetzt zum Konklave versammelt haben, werden die Fresken ausgiebig betrachten können, wenn sie denn die Köpfe heben und den Blick schweifen lassen. Zu sehen oder eher zu ahnen ist eine Welt, die mit der heutigen Realität der katholischen Kirche immer weniger zu tun hat.
Die heidnische Antike und die christliche Heilsgeschichte gingen für die Päpste wie für die Künstler der Renaissance noch zusammen und ließen sich in Bildprogrammen deuten: hier genauso wie in den anderen berühmten Fresken des Vatikans, die der geniale, früh verstorbene Raffael ausgeführt hat und die Touristenströme passieren, bevor sie in der Sixtinischen Kapelle den Höhepunkt und Abschluss ihres Rundgangs erleben.
Und wer weiß, vielleicht wählt der nächste, der neue Papst einen Namen, der in einem Bezug steht zu den Fresken, die er zuvor so ausgiebig hat betrachten können. Oder zu ihren päpstlichen Auftraggebern der Renaissance, als Rom das Zentrum des "Abendlandes" war.