Bildband von Solange Knowles

Die Erlaubnis, zu fühlen

Die Performance von Sängerin Solange gehörte zu den Höhepunkten der Venedig-Biennale 2019. Das nun erschienene Buch dazu handelt von Chaos und Nähe und zeigt die vielen Talente einer Ausnahmekünstlerin

Im November 2019 kam es zu einem besonderen Ereignis. Im Teatro alle Tese in Venedig gab es die Abschlussperformance der 58. Biennale Arte zu sehen, und die zog Kunst- wie Popwelt gleichermaßen an. Zwischen architektonischen Blöcken, als minimale Arena angeordnet, Räume öffnend und schließend, tanzten Schwarze Performerinnen und Performer in schlichten Anzügen oder Kostümen in Brauntönen. Manche trugen Polster um den Hals, die an Nackenrollen erinnerten. Es gab Musiker an Keyboards und am Kontrabass, und die Besucherinnen und Besucher wurden gebeten, schwarze Kleidung zu tragen. Nichts wurde dem Zufall überlassen, denn niemand geringeres als die Grammy-Gewinnerin und Beyoncé-Schwester Solange war hier für Komposition und Regie verantwortlich. Die allerdings noch so viel mehr ist: Architektin, Choreografin, Filmemacherin, Bildhauerin, Autorin.

Im minimalen Set-Design war postmoderner Tanz zu sehen. Es ging um Verlust, Schutz, Identität. Als emotional besonders bewegend beschreiben die Zuschauer die Performance "In Past Pupils and Smiles", und wer nicht das Glück oder die Zeit hatte, dabei zu sein, kann nun auf 188 Seiten nachlesen und -schauen, was dort passierte. Denn Solange hat gerade einen opulenten Bildband veröffentlicht, der das Event noch einmal aufleben lässt.

Das Buch ist – bis die Seiten sich irgendwann ändern – ebenfalls in diesen Brauntönen gehalten, sieht aber nicht nur gut aus, sondern ist auch sehr umfang- und detailreich. Es gibt viele Fotos der Tänzerinnen und Tänzer, der Band, Bilder vom Aufbau, vom Raum, den Proben. Aber auch Skizzen der Bühne und Noten sind abgedruckt. Und es gibt Beiträge von Kreativen, lange Gespräche mit Solange und Interviews mit Haarkünstlerin Virginie "Gin" Moreira, mit Stylist Kyle Luu oder mit Filmemacherin Chloe Wayne Sultan, die die Doku "V" über den verstorbenen Designer Virgil Abloh gedreht hat. Diese sagt über Solange, sie würde Zeit und Räume zu Fragen formen.

Welten, die nebeneinander existieren

Auch Aaron Cezar, der als Gründer der Delfina Foundation damals das Programm "Meetings on Art" zusammen mit dem Biennale-Kurator Ralph Rugoff kuratiert hat, kommt zu Wort. Er beschreibt Solange als Anführerin einer Bewegung von Künstlerinnen und Künstlern, "die Performance nicht als Medium verstehen, sondern als eine Möglichkeit, die Welt um uns herum zu verarbeiten. Ihre Praxis bricht mit akzeptierten Kategorien und Genres und hinterfragt kritisch, warum es diese Grenzen überhaupt gibt."

Solange selbst erklärt, dass es ein entscheidender Moment für sie gewesen sei, diese Verhandlungen zwischen ihrer theaterbasierten Praxis und ihrer Performance-Kunst. "Diese beiden müssen in diesem Stück nebeneinander funktionieren, und das hat mir vieles klarer gemacht. Die Art und Weise, wie diese beiden Welten zusammen und nebeneinander existieren müssen, davon handelt meine Arbeit."

Es war nicht Solanges erste Performance, sie hat bereits in den namhaftesten Häusern ausgestellt: 2019 war sie mit "Bridge-s" von Gerard & Kelly als Co-Regisseurin im Getty Museum in Los Angeles vertreten, zwei Jahre zuvor hatte sie Werke im Guggenheim in New York gezeigt. Ihr Film "When I Get Home" wurde im Brooklyn Museum oder im Victoria and Albert Museum in London aufgeführt.

Die Hände in Erde stecken

Umso schöner, dass das Buch nicht versucht, mit großen Namen und Power zu beeindrucken, sondern sich Zeit nimmt für die einzelnen Mitwirkenden. "Mich aus dem Zentrum dieser Performance zu entfernen, hat mir viel Raum eröffnet, Welten zu erschaffen, ohne in der Welt gesehen zu werden. Das war ein kraftvoller Moment für mich, die Stärke der Intention dieser Performer und Künstler zu erkennen", so Solange.

Wir lernen außerdem, dass die Kostüme Stärke und Verletzlichkeit vermitteln sollen, dass die Künstlerin an das Gefühl erinnern wollte, wie es ist, mit den Füßen im Schlamm stehend die Hände in Erde zu graben. "Ich wollte Schlamm. Schreien. Opfergaben. Dieses Stück gab mir die Erlaubnis, zu fühlen. Es war ein Moment der Trauer, ein Moment, um auszudrücken, wie viel Trauer durch Verlust entsteht", wird sie zitiert.

Denn wir lernen auch, dass drei Tage vor der Aufführung eine – selbst für Venedig besonders starke – Flut kam, die das weißbraune Wasser, den Schlamm in die Stadt brachte und die Besucher auf schmalen Podesten durch die Gassen gehen ließ. Die Performance musste verlegt, das Set-up kurz vor der Premiere verändert werden, das Licht, die Bühne. Auch von diesem Chaos, von der Bewegung und der Gemeinsamkeit handeln diese Performance und dieses Buch.