Sowjetisches Design

Licht an in den dunklen Ecken der Kunstgeschichte

Kein zarter Bildband, sondern ein echter Brocken: Eine neue Publikation würdigt das spärlich erforschte sowjetische Design jenseits von Klischees. Und zeigt, wie weit die Gestaltung über steile Kanten und bunt bemalte Matrjoschkas hinausgeht

Bücher über sowjetisches Design erkennt man meist schon an dem knalligen, zumindest aber irgendeine Skurrilität präsentierenden Titelbild. Geradezu aufgeräumt nüchtern erscheint demgegenüber dieser neue Atlas: "Soviet Design. From Constructivism to Modernism 1920 – 1980" ist er überschrieben, und genau dies findet man in ihm. Wuchtig ist das Buch, bei einem solchen designhistorischen Umfang naheliegend, obendrein. Kein zarter Bildband, sondern ein echter Brocken.

Auf 447 großzügig formatierten Seiten geben Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov einen Überblick über (Möbel-) Design und (Innen-) Architektur der Sowjetrepubliken. Ihren Schwerpunkt legen sie dabei gerade auf jene Stile und Strömungen, die nicht so recht ins schrille Bild passen wollen. "Sowjetisches Möbeldesign ist eine der am wenigsten erforschten Gebiete der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts", meint Krasnyanskaya im Vorwort, "dabei ist es kein bisschen weniger interessant oder aufregend." Dabei gehen sie und ihr Co-Autor sowohl in die Breite als auch in die Tiefe ihres Sujets.

Zum Einstieg lehrt eine Legende die wichtigsten russischen Idiomen im Bereich Kunsthandwerk und Design, für das es so nämlich keine direkte Entsprechung in der Sprache gab. Eine Einführung in die politische, theoretische und ideologischen Hintergründe sowjetischer Gestaltung der 1920er-Jahre folgt, dann geht der praktische Streifzug durch 60 Jahre Möbeldesign erst richtig los. Wer nur die oben genannten Büchlein kennt, vielleicht noch den ein oder anderen Avantgarde-Designer, der wird ins Staunen geraten ob der schieren Vielfalt, von den ans Bauhaus erinnernden Möbeln der VKhUTEMAS-VKhUTEIN, also der Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten in Moskau, bis zu den prachtvollen Art- Déco-Entwürfen in Moskauer U-Bahn-Stationen.

Das andere Mid-Century 

Das Buch schließt mit der aufkommenden Massenproduktion und einer neuen Generation an Designern in den 70er- und 80er- Jahren, die sich auch zunehmend als solche verstanden. Vorher geht es aber noch einmal zum "Last Great Style in Soviet Design", dem sowjetischen Modernismus, der auch hinter dem (bisweilen zart gelüfteten) Eisernen Vorhang oft erstaunliche Ähnlichkeit mit der Mid-Century-Moderne westlichen Zuschnitts entwickelte, trotzdem höchst eigenständig gestaltet war. Nur an Details lassen die Interieurs manchmal erkennen, dass man sich zu jener Zeit in Moskau und nicht zum Beispiel in Stockholm oder Los Angeles befindet.

"Das Studium der visuellen Künste ist wahrscheinlich der beste Weg, Geschichte zu verstehen, und bietet das objektivste Maß einer Epoche", schreibt die Direktorin des Shchusev State Museum of Architecture, des nationalen Architekturmuseums, im Buch. In diesem Sinne könnte "Soviet Design" durchaus zu einem neuen Standardwerk über das Abbilden schöner Möbel hinaus werden.