Fotograf Spencer Tunick

Ein bisschen Gender-Debatte fürs große Ego

Mit einer Nackt-Aktion protestiert US-Fotograf Spencer Tunick gegen die Zensuren weiblicher Brustwarzen auf Instagram. Oder geht es ihm eigentlich nicht doch nur um seinen eigenen Erfolg?

Vor den New Yorker Bürogebäuden von Facebook liegen, stehen, gehen etwa 100 Menschen. Nackt. Ihre Genitalien verdecken sie mit runden Pappscheiben, die sie auch in die Höhe halten. Bei genauerem Hinsehen sind es Abbildungen von Brustwarzen. Die weiblichen Brüste sind zudem mit Aufklebern verdeckt. Die zeigen einfach wieder Brustwarzen. Männliche Brustwarzen. Um die vor allem weibliche Menschenmenge herum springt ein Mann mit Kamera: der Künstler Spencer Tunick.

Die Aktion ist nicht einfach nur eine neue, nackte Menschenskulptur des US-Fotografen. Der 52-Jährige versteht sie als Protest. Tunick will gemeinsam mit der National Coalition Against Censorship, die aus 50 gemeinnützigen Organisationen besteht und gegen literarische, künstlerische oder religiöse Zensur kämpft, auf die Sanktion von Nacktheit auf Facebook und Instagram aufmerksam machen. Daher halten die Aktionsteilnehmer Bilder von Brustwarzen in die Großstadtluft. Das Konzept beruht auf der Idee von der feministischen Künstlerin Micol Hebron, die  die männlichen Aufkleber 2014 in die digitale Welt einführte. Aber bei der Aktion Anfang Juni in New York sind es nicht irgendwelche Brustwarzen: Der selbsternannte Erleuchtungs-Guru Andrew Cohen, der Künstler Andres Serrano, der Fotograf Adam Goldberg, der Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers, Chad Smith, der Fotograf Mpagi Sepuya und Spencer Tunick selbst haben Fotos ihrer Brustwarzen gespendet.

Die Bewegung nennt sich #WeTheNipple. In Anlehnung an "We the People" – dem ersten Satz der US-Verfassung – geht es den Aktivisten eindeutig um Grundrechte, aber die Zensur im Netz regelt kein Gesetz, sondern die Nutzungsbedingungen von Facebook und Instagram. In den Richtlinien heißt es: "Wir wissen, dass manche Personen Bilder von Nacktheit als künstlerische oder kreative Darstellungsform teilen möchten. Aus verschiedenen Gründen ist die Darstellung von Nacktheit auf Instagram jedoch nicht zulässig. Das gilt auch für Fotos, Videos und einige digital erstellte Inhalte, auf denen Geschlechtsverkehr, Genitalien und Nahaufnahmen nackter Gesäße zu sehen sind. Dazu zählen auch Fotos, auf denen Brustwarzen von Frauen zu sehen sind. Fotos, die Narben nach einer Brustamputation oder aktiv stillende Mütter zeigen, sind jedoch erlaubt. Auch Nacktheit in Fotos, die Gemälde und Skulpturen abbilden, sind in Ordnung."

Der Ursprung des Problems liegt nicht in der digitalen Welt

In dieser Unterscheidung männlicher und weiblicher Brustwarzen sehen viele Menschen eine Ungleichbehandlung und übermäßige Sexualisierung von Frauenkörpern. Doch das Problem ist nicht auf Instagram oder Facebook entstanden, sondern trägt eine allgegenwärtige Ungleichheit in den digitalen Bildraum. Seit Jahrhunderten werden die Brüste von Frauen nicht einfach als Organ zum Stillen von Säuglingen, sondern viel mehr als Körperteil mit Erregungspotenzial (vor allem von Männern für Männer) angesehen. Die Kunst hat zu diesem Bild beigetragen: In der Kunstgeschichte sind weibliche Akte im Überfluss anzutreffen – als Göttinnen, Musen oder Femme Fatales. Oft ein patriarchaler Blick auf den weiblichen Körper als Sexualobjekt. Die Aktion von Spencer Tunick bedient dieses uralte Modell von männlichen Künstlern und weiblichen Aktmodellen. Zwar nehmen auch männliche Performer in den Arbeiten des 52-Jährigen teil, doch der Großteil der Modelle sind Frauen. Auch die Aussage des Fotografen, er verstehe seine Werke nicht als Akte, sondern als Landschaftsskulpturen, ändert daran nichts.

Zwar will #WeTheNipple laut Instagram-Posts "auf die starre, anachronistische Geschlechter-Ungleichheit in den sozialen Netzwerken aufmerksam machen", doch auf seiner Website schreibt der Fotograf, es ginge vor allem um eine Gleichstellung von Malerei/ Skulptur und Fotografie beziehungsweise gleiche Erfolgschancen für alle Künstler auf Instagram. Damit steht bei der Prostestaktion #WeTheNipple nicht die Gender-Gleichstellung, sondern eindeutig die Verbreitung der eigenen Fotografien im Vordergrund. Dass die Arbeiten Spencer Tunicks von dem Zensur-Problem betroffen sind, ist kaum zu leugnen. Die nackten Menschen sind Grundbausteine seiner Installationen. Doch auch sein Hinweis, dass sich unter den Spendern queere und geschlechtsneutrale Künstler befinden würden, macht den Anschein, als wollen die Beteiligten versuchen, die eigenen Interessen hinter Gender-Themen zu verstecken. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es letzlich doch um den Erfolg männlicher Künstler geht.

Natürlich ist die Unterscheidung auf Instagram zwischen den Kunstgattungen oder Geschlechtern schwer zu ertragen. Ebenso wenig in der realen Welt. Die Social-Media-Zensur reduziert das gesellschaftliche Problem der Objektivierung von Frauenkörpern auf Brustwarzen. Nichts anderes macht die Aktion #WeTheNipple – wenn nicht schlimmer: Es mag sein, dass die Abbilder männlicher Brustwarzen in der New Yorker Aktion benutzt wurden, weil diese von Instagram akzeptiert werden. Doch den Frauen (passiv herumstehend) wird die Männlichkeit der Künstler geradezu aufgedrängt, wenn sie die eigenen Genitalien und Brustwarzen mit deren Nippeln verdecken. Wäre es nicht konsequenter gewesen, Bilder von weiblichen Brustwarzen zu benutzen, eben weil sie auf Instagram verboten sind? Auf diese Weise hätte man(n) auch Künstlerinnen involvieren können. Die ganze Kunstaktion ist also nicht nur zu einfach für dieses komplexe Thema, sondern führt das Problem einfach nur fort.