Computerspiel zum russischen Pavillon

Stell’ dir vor, es ist Biennale und keiner geht hin

Trotz verschobener Architektur-Biennale von Venedig haben sich russische Künstlerinnen und Künstler für eine digitale Alternative ihres Landespavillons zusammengetan. Mit dabei: Ein Computerspiel in Endzeit-Stimmung

Die Nachrichten und Auswirkungen rund um Corona haben das Jahr 2020 und die globalisierte Gesellschaft schon jetzt deutlicher geprägt als alle Ereignisse der Vorjahre. Auch vor der Kunstwelt machte das Virus nicht Halt und versetzte den Ausstellungsbetrieb in Sicherheitsstarre. Noch ist das Ausmaß der Folgen – ob wirtschaftlich oder politisch – nicht absehbar, aber schon jetzt haben wir ein Frühjahr der Verschiebungen und Ausfälle erlebt und können bis dato nur spekulieren über die langfristigen Veränderungen, die das Virus auf der Welt auslösen könnte.

Mit befremdlichem Hygieneabstand sitzen die üblichen Diskutanten in Talkshows und Podien und malen sozialistische Utopien oder kapitalismusinduzierte Horrorszenarien, wie es denn nun weitergehen könnte – mit der Erde, mit den Menschen, mit der Technik, mit der Kunst, mit allem.

Die Architektur-Biennale von Venedig, eine der traditionsreichsten Großausstellungen, wurde coronabedingt ebenfalls verschoben (auf 2021), was viele Künstlerinnen und Künstler aber nicht von ihren kreativen Prozessen und Interventionen abhält. Unbeeindruckt von der fehlenden Möglichkeit, in diesem Jahr einem analogen Welt-Publikum ihre Kunst zu präsentieren, haben sich die Mitwirkenden des russischen Pavillons entschieden, ihre Projekte so anzupassen, dass sie auf einer digitalen Plattform gezeigt beziehungsweise gespielt werden können.

Eine Entität auf Spurensuche

Der russische Künstler und Videogame-Designer Mikhail Maximov entwickelte für diese Kollaboration das Spiel "Sanatorium Anthropocene Retreat" – ein postapokalyptisches Erkundungsszenario mit Shooter-Ästhetik und Rollenspielcharakter. In Empfang genommen von einem videospielüblichen Startbildschirm wird den Kunstprojekt-Zockern schnell klargemacht, in welchem Kontext das bevorstehende Spiele-Erlebnis zu sehen ist. Texttafeln und On-Screen-Informationen verorten die Gamer im verlassenen russischen Pavillon und geben von Beginn an zu verstehen, dass wir herausfinden müssen, was dieses dystopische Desaster ausgelöst hat. Kleiner Spoiler: Die Antwort wird uns nicht gefallen.

Angeleitet durch verschiedene Quests startet die Hauptfigur als anthropomorphe Entität und begibt sich auf die Suche nach Anhaltspunkten. Begegnungen mit einem "posthumanistischen Philosophen" oder dem neuesten Haustier des Robotik-Monopolisten Boston Dynamics "Spot" führen das spielbare Ich durch das zu rekonstruierende Narrativ, während im Heads-Up-Display verschiedene Timer Zeit zu einem zentralen Thema machen: Links erfährt man wie viele zehntausende Jahre bis "Jetzt" noch bevorstehen, am rechten Bildschirmrand wird die eigene Spielzeit angezeigt – denn auch wenn alleine gespielt wird, liegt "Sanatorium Anthropocene Retreat" ein kompetitiver Charakter zugrunde, der einen andauernd darüber informiert, in welcher Bestzeit andere Spieler dasselbe Problem bereits gelöst haben.

Im Laufe der Erkundungen muss die Hauptfigur nicht nur das Gelände rund um den nachempfundenen russischen Pavillon genaustens inspizieren, sondern sich auch diversen Gestaltwandlungen unterziehen. In Form eines Roboters, als Virus und als Mensch müssen die Spielerinnen und Spieler sich die richtige Chronologie zusammensetzen, um voranzukommen. Um die Gestalt eines Roboters anzunehmen, müssen Gamer beispielsweise als Humanoid Objekte explodieren lassen und wechseln dafür in eine Shooter-typische Ego-Perspektive. Kleiner Tipp: Nicht auf die Idee kommen, das russische Wappentier abzuschießen – den Doppeladler, der auf der Spitze des monumentalen Pavillonbaus thront. In ebendiesem Pavillon finden sich zwischen Trümmern, Scherben und Spuren einer nuklearen Auseinandersetzung auch Kunstobjekte und zahlreiche Verweise auf das aktuell grassierende Virus.  Bereits in der Vergangenheit lud der russische Pavillon seine Besucherinnen und Besucher in düstere Weltuntergangs-Gefilde: Auf der Kunstbiennale 2017 arbeiteten sich Grisha Bruskin, die Recycle Group und Sasha Pirogova an militanten Massenbewegungen, Bildern aus dem neunten Höllenkreis aus Dantes "Göttlicher Komödie" und AR-Dystopien ab. Multimedia-Installationen und labyrinthische Temporär-Architekturen sind in diesem nationalen Kontext ein fast schon übliches Handwerk.

"Wie im echten Leben"

Mit dem Medium Computerspiel und der Bereitstellung auf der weltweit bekannten Spieleplattform "Steam" bewegt sich Maximovs Projekt aus der Publikums-Comfort-Zone heraus und lässt buchstäblich Welten aufeinanderprallen.

Im Wechsel zwischen Ego- und Third-Person-Perspektive, begleitet von der melancholischen Vertonung des russischen Komponisten Vladimir Rannev, werden die Spielerinnen und Spieler nicht nur durch eine an die Realität angelehnte Nachwelt navigiert, sondern auch mit realen Befragungen der Bedeutung öffentlicher Institutionen in Zeiten nach der Pandemie konfrontiert. "Sanatorium Anthropocene Retreat" richtet sich gleichermaßen an Spielebegeisterte und Kunstpublikum. Ob Rollenspiel oder Renaissance: Mit Entlehnungen aus der griechischen Mythologie, beispielsweise wenn Spieler das goldene Ei von Leda berühren müssen, bezieht sich die Spielwelt auf kunsthistorisch verwurzelte Erzählungen und Motive.

Und für alle, die sich in Maximovs Horrorlandschaft rund um den virtuellen Pavillon nicht zurechtfinden, bietet ein Gespräch mit dem im Spiel integrierten "antihumanistischen Philosophen" einen passenden Leitfaden: "Everything is like in real life. Talk to the virus, get to know the nuclear bomb, watch a movie."