Steve McQueens Generationen-Porträt

Klassentreffen

Steve McQueen hat ein gigantisches Generationenporträt geschaffen. Zusammen mit der Tate Britain hat der britische Künstler und Regisseur alle dritten Klassen in London fotografiert

Klassenfotos sind für Kinder meist ein notwendiges Übel (stillsitzen, die Wunsch-Outfits der Eltern anziehen, die Uniform bügeln, nicht schmutzig machen). Für Erwachsene entwickeln sie aber einen ganz eigenen nostalgischen Wert (was macht eigentlich, wie hieß nochmal, wie schnell die Zeit vergeht). Sie sind Momentaufnahmen einer Kindheit und gleichzeitig Porträts einer Zeit und ein eingefrorenes Warten auf die Zukunft.

Der britische Künstler und Filmemacher Steve McQueen ("12 Years A Slave") hat sich dem Medium Klassenfoto, das im Allgemeinen eher privat zirkuliert, nun in einem äußerst ambitionierten Ausmaß gewidmet. Zusammen mit Fotografen der Tate Britain hat er alle dritten Klassen in London eingeladen, sich für sein Projekt "Year 3" ablichten zu lassen.

Nach Angaben der Ausstellungsmacher haben in diesem Jahr 115.000 Schüler in der britischen Hauptstadt das dritte Schuljahr begonnen - in über 2000 öffentichen oder privaten Schulen oder im Heimunterricht in der Familie. Im englischen Schulsystem, in das Kinder bereits mit vier oder fünf Jahren einsortiert werden, sind die "Year 3"-Schüler sieben bis acht Jahre alt. Ein Alter, in dem die Welt immer größer und komplizierter wird, das Bewertungssystem der Schule in vollem Ausmaß auf die Kinder zugreift und sich erste Ideen von dem entwickeln, was man mal sein will.  

Die Straße als Schule

Auch wenn letztlich nicht alle Kinder seiner Einladung gefolgt sind, ist Steve McQueen ein opulentes Poträt einer Generation gelungen, die vielleicht gerade beginnt zu verstehen, was um sie herum in Großbritannien passiert. Die aber in jedem Fall die Zukunft des Landes prägen wird. Damit die Londoner diese Generation nicht nur in versiegelten Museumsräumen kennenlernen, hängen die Klassenfotos auch als riesige Billboards in der Stadt. Die Straße als Schule, wenn man so will. 

In der Tate Britain ist übrigens auch Steve McQueens eigenes Klassenfoto aus dem "Year 3" zu sehen. In der Little Ealing Primary School im Londoner Westen steht der spätere Turner-Prize-Gewinner breit lächelnd in der Mitte seiner Mitschüler. Es gibt offenbar keine verpflichtende Schuluniform, aber gedeckte graue Hemden unter strengen Wollpulovern mit V-Ausschnitt liegen im Trend. Der achtjährige Steve schaut offener und weniger verkrampft in die Kamera als viele seiner Klassenkameraden.

In Interviews hat der Künstler später erzählt, dass er seine Grundschulzeit als unbeschwert erlebt hat. Viel Lachen, wenig Lernen. Dann die weniger guten Erinnerungen. Er bekam die Diagnose Dyslexie, und seine Lehrer empfahlen ihn für "Arbeit mit den Händen". Dem "Guardian" sagte er, dass er "sehr schnell in eine Schublade gesteckt wurde". Später gab ein neuer Schulleiter zu, dass die damaligen Einschätzungen ein Ergebnis von institutionellem Rassismus waren.  Auch solche Geschichten werden auf den Klassenfotos erzählt.