Stipendiaten-Ausstellung in Halle

Ein Querschnitt der Kunst, die gerade in Deutschland entsteht

Die Stipendien der Stiftung Kunstfonds gehören zu den bestdotierten und begehrtesten in Deutschland. Nun werden Arbeiten der Ausgewählten in Halle gezeigt - und geben Aufschluss über Themen, die die Kunst gerade bewegen

Nicht wirklich bequem sehen die zehn Stühle aus, die David Polzin auf der Treppe in den Ausstellungsräumen der Kunststiftung Sachsen-Anhalt arrangiert hat: Mal ist die Sitzfläche zu klein, mal gar nicht existent, und der Sitzstachel aus poliertem Edelstahl garantiert Schmerzen am Allerwertesten. 

Beim "Vereinigten Stuhl II" von 2024 wird mit Blick auf die Werkbeschreibung deutlich, dass Polzins Objekte nicht nur mit der Sehgewohnheit der Vitra-Design-Welt spielen, sondern auch eine historische Dimension haben: BRD-Kunststoffstuhl und DDR-Stahlrohlstuhl bilden zumindest ästhetisch eine interessante Neukombination. 

Die Herkunft spielt bei der Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung Kunstfonds keine Rolle: Antragsberechtigt sind bildende Künstlerinnen und Künstler-Duos, die wie David Polzin hauptberuflich freischaffend tätig sind und ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Mit 18.000 Euro für sechs Monate gehört das Stipendium zu den bestdotierten in Deutschland. Im Jahr 2024 hat die 16-köpfige Jury 83 Stipendien vergeben, die konzentrierte künstlerische Arbeit und neue Ideen fördern sollen. Einen Zwang zur Neuproduktion gibt es nicht. Was zählt, ist die Qualität der bisherigen künstlerischen Arbeit. 

Eine Auswahl, "die möglichst viele Medien und auch Altersgruppen abdeckt"

Und von der können Besuchende sich nun in der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle überzeugen: Zum ersten Mal seit 20 Jahren präsentiert die Stiftung Kunstfonds ihre Stipendiatinnen und Stipendiaten in einer Ausstellung. Elf Positionen wurden aus dem Pool der Geförderten ausgesucht: "Wir haben uns dafür alle Bewerbungen noch einmal vorgeknöpft und eine Auswahl getroffen, die möglichst viele Medien und auch Altersgruppen abdeckt", erklärt Christine Bergmann, die mit Kriz Olbricht und Thibaut de Ruyter zum Entscheidungsgremium gehört. 

Marta Dyachenko, Jahrgang 1990, ist die Jüngste der Ausstellenden, Doris Kaiser, geboren 1958, die Älteste. Beide arbeiten skulptural mit dem Raum. Dass hier die jeweiligen Einzelwerke im Fokus stehen, unterstreicht der umständliche Ausstellungstitel "A.D.M.D.M.G.A.G.S.H.D.K.S.K.R.M.D.P.A.S.A.W.", der die Initialen aller elf Künstlerinnen in alphabetischer Reihenfolge vermerkt: Ahu Dural, Marta Dyachenko, Monika Grabuschnigg, Andrea Grützner, Samuel Henne, Doris Kaiser, Selma Laura Köran, Roy Mordechay, David Polzin, Anna Schimkat und André Wischnewski. 

Der Rundgang beginnt mit einem scheinbar vertrauten Geräusch: "Klack, Klack, Klack": Anna Schimkat hat sich ausgehend vom Ampelleitsystem für blinde Menschen mit dem Rhythmus unseres Alltags auseinandergesetzt. Für die Installation "Note Sensible" aus dem Jahr 2018 hat sie vier funktionierende Ampelknöpfe an Gerüsten montiert und im Raum verteilt. 

Ein Libretto über westdeutsche Perspektiven auf den Osten 

An jeder Stange lädt eine rote Taste zur Interaktion ein: Drückt man drauf, ertönt ein Signal, das nicht nur an den Straßenverkehr erinnert, sondern auch zum Tanzen animiert. Das Stipendium hat Schimkat 2024 für Recherchen zu einem neuen Chorstück genutzt: Zeitungsartikel zu den Europa- und Landtagswahlen 2024 sind Grundlage für ein Libretto, das die westdeutsche Perspektive auf den Osten zu Thema hat. Der Titel: "What if We Were Wrong?" – in Anlehnung an Barack Obamas Kommentar zur ersten Wahl Donald Trumps. 

Kurz nach Maueröffnung zog Andrea Grützner aus Sachsen nach Kaiserslautern, lebt inzwischen wieder in Dresden. Seit 2013 hat sie immer wieder im Landgasthof Erbgericht in Polenz, einem kleinen Ort östlich von Dresden fotografiert. Schon über 125 Jahre ist es Gaststätte und Gästehaus: "Ich selbst verbinde meine frühesten Kindheitserinnerungen mit diesem Haus", erzählt sie beim gemeinsamen Rundgang. 

Auf den großformatigen Farbfotografien sind zunächst nur Formen und Farben zu erkennen. Erst auf den zweiten Blick treten Garderobenständer und Spinnweben, Treppen, Lüftungsschächte und ein Kümmerling-Schnaps-Kranz hervor. Über 40 analoge Fotos gehören inzwischen zur Serie. Die poppigen Farbflächen entstehen durch Lichtinszenierung mit Farbfiltern vor Ort. Mehrere Blitze lösen zeitgleich aus und färben Schatten ein. Das reale Haus hallt in den Bildern wider, in denen jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren geht.

Forschen im Familienarchiv

Auch Samuel Henne kehrte für seine Arbeit "Cosmos" an einen ihm vertrauten Ort zurück: Nach dem Tod seines Vaters sah er sich mit dessen Habseligkeiten, Zeichnungen und Notizen konfrontiert und hat daraus ein Buch gemacht. Und auch für Ahu Dural spielt die eigene Familienbiografie eine zentrale Rolle: Die deutsch-türkische Künstlerin wuchs im Berliner Stadtteil Siemensstadt auf, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Werksiedlung des Konzerns gebaut wurde. In vielen ihrer Werke sind heute Metalle, Kragen und Stoffe zu finden, die eng mit der Tätigkeit der Mutter in Verbindung stehen, die schon als 17-Jährige im Akkord bei Siemens arbeitete. 

Holzobjekte erinnern in Halle an Kinderspielplätze, Farbfotos liegen auf einem Tisch und lassen offen, ob es sich um autobiografische Erzählungen oder universelle Verweise auf die deutsche Wirtschafts- und Migrationsgeschichte handelt. 

Selma Laura Köran hinterfragt in ihren Videoarbeiten und Keramiken die traditionellen Lesarten des weiblichen Körpers und seiner Repräsentation in Sagenwelten und historischen Artefakten. Auch bei den Wandreliefs von Monika Grabuschnigg handelt es sich um Keramiken – die Abformungen von Kühlschranktüren aus Single-Haushalten und Hotelzimmern tragen noch die Spuren der einstigen Nutzer. Roy Mordechay und André Wischnewski ergänzen die Präsentation um die Medien Aquarell und Messerschnitt. 

Ein Querschnitt künstlerischen Schaffens in Deutschland 

So ist die Ausstellung thematisch wie in der Wahl der formalen Mittel durchaus als Querschnitt aktuellen künstlerischen Schaffens in Deutschland zu lesen. In den Stipendien-Bewerbungen habe auffällig oft der Umgang mit künstlerischer Intelligenz eine Rolle gespielt. In die Ausstellung hat es leider keine dieser Positionen geschafft. Dennoch ist die Präsentation insbesondere für Studierende der wenige Meter entfernten Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle ein Gewinn. Am 7. Mai wird Thibaut de Ruyter durch die Schau führen und anschließend mit Marion Eisele, der Projektleiterin der Kunstfonds-Programme, für Fragen und Informationen zur Fördertätigkeit bereitstehen. 

Eine der häufigsten Fragen dürfte die nach dem Programm "Kunstfonds_Publikation" sein, für das man sich derzeit nicht bewerben kann. "Die gegenüber dem letzten Jahr deutlich reduzierten Bundesmittel zwangen uns, das Förderangebot für 2025 einzuschränken", erklärt Karin Lingl, Geschäftsführerin der Stiftung Kunstfonds, auf Nachfrage von Monopol. Deshalb seien die Programme für Publikationen und Soloprojekte vorläufig ausgesetzt. 

"Insbesondere die wegfallende Publikationsförderung tut weh, sind Kataloge und Bücher doch ein wichtiges Medium für Künstlerinnen und Künstler zur Vermittlung ihrer Kunst", so Lingl. "Vorrangig erschien uns in dieser misslichen Lage jedoch, freies Kunstschaffen zu ermöglichen." Der Kunstfonds habe daher den Fokus auf das Stipendienprogramm gelegt und konnte für 2025 nun 54 Zusagen vergeben – deutlich weniger als noch im Vorjahr. Die Zukunft der Kunstförderung liegt aktuell in den Händen der neuen Bundesregierung: "Wir freuen uns, dass die zukünftige Regierung - so der Vorschlag der den Koalitionsvertrag vorbereitenden Arbeitsgruppe - die Stiftung Kunstfonds sowie die anderen Bundeskulturfonds stabilisieren will und blicken vertrauensvoll auf die Abgeordneten des Deutschen Bundestags."