Südtirol

An der Wurzel gepackt

Heidi Hinterwaldner und Andreas Hofer im Porträt
Foto: Amadeus Waldner

Heidi Hinterwaldner und Andreas Hofer kümmern sich bei Manna Organic um den Verkauf

Im Eisacktal in Südtirol entdecken Landwirte alte Obst- und Gemüsesorten wieder. Ein Besuch vor Ort

Wohlgeformt, glatt, rund, rotwangig. So sieht der vermeintlich perfekte Apfel aus. Bestenfalls schmeckt er dann auch noch angenehm süß, nicht zu herb, nicht zu sauer, immer gleich. Die Äpfel, die bei Waltraud, genannt Wally, Erlacher auf dem Hof in Villanders wachsen, schmecken anders. Und sie sehen anders aus. Manche muss man erst ein paar Wochen lagern, bis sie ihr volles Aroma entwickeln. Mal sind sie kleiner, mal größer, mal gelb, mal grün. Sie haben kleine Macken, und wenn man sie aufschneidet, werden sie an den Kanten braun. Im Großhandel hat solches Obst keinen Platz. Da gelten andere Regeln, die vom Markt und von den Konsumenten beeinflusst werden.

Die Bäuerin erzählt im Laden von Manna Organic im Nachbardorf Waidbruck davon. In Rage könnte sie sich reden bei dem Thema. Vor ihr auf dem Tisch steht eine Schale mit Äpfeln. Sie stammen nicht von ihrem Hof, könnten es aber. Erlacher ist Teil von Manna Organic, einem kleinen Verein, gegründet von einer Handvoll Bäuerinnen und Bauern aus dem Eisacktal, die sich dem Anbau alter Obst- und Gemüsesorten verschrieben haben, absolut ökologisch – ökologischer als bio. Erlacher nimmt einen der Äpfel heraus und streicht ihm rund um den Stiel über die Schale. Bräunlicher Schorf hat sich dort gebildet, nicht unbedingt schön, aber nützlich, "natürliche Schädlingsabwehr".

Gemüsesorten auf dem Aspingerhof
Foto: Amadeus Waldner
600 verschiedene Gemüsesorten wachsen auf dem Aspingerhof


Dass es sich bei Manna Organic um ein Ladengeschäft handelt, sieht man erst auf den zweiten Blick. Wenig gemein mit üblichen Obst- und Gemüsehandlungen hat es, auch nicht mit Bioläden, es liegt nämlich kaum etwas herum. Auslagen von Frischware, aus denen sich die Kunden die schönsten Exemplare aus den Haufen herauspicken, gibt es nicht. Stattdessen warten nur jeweils ein oder zwei Pastinaken, Süßkartoffeln oder Kohlrabi im Regal. Wer etwas haben will, muss fragen, was noch da ist. Und Mitglied sein. Einmalig fünf Euro kostet es, dann kann man einkaufen, und das noch nicht einmal allzu teuer. Die Wege sind kurz, Zwischenhändler gibt es keine. Alles ist simpel gehalten, dabei sind die Pläne hoch gesteckt: Die Mitglieder von Manna Organic wollen einen völlig neuen Umgang mit Lebensmitteln wie Landwirtschaft kultivieren. Gerade hier, in Südtirol, wo Landwirtschaft neben dem Tourismus der wichtigste Wirtschaftszweig ist.

Das Wetter spielt nicht immer mit – so oder so. Urplötzlich geregnet hat es in den letzten Tagen, viel zu lang und viel zu heftig. Bei ein paar der kleineren Bäume auf dem Hof von Waltraud Erlacher sind Äste aus der Krone gebrochen. Die Zukunft wird zeigen, ob sie überleben. Erlacher seufzt, während sie die Fotos zeigt, die sie am Morgen von ihren Bäumen aufgenommen hat. Ein gutes Geschäft macht sie mit ihren Äpfeln ohnehin nicht. "Purer Luxus" sei ihre Apfelplantage, sagt sie, die eigentlich bildende Künstlerin ist. Ihr Großvater war Metzger, sie selbst hat sich vor ein paar Jahren zur Wassersommelière ausbilden lassen. Der Sinn für Lebensmittel und Genuss liegt bei ihr in der Familie. Nicht mehr in Ruhe gelassen habe sie es, wie schlecht wir unsere Lebensmittel behandeln, erzählt sie. Nach und nach hatte sie in den vergangenen Jahren alte, kaum mehr bekannte Sorten gepflanzt. Einige von ihnen stammen aus Deutschland, wo man aus den Früchten Schnaps brannte.

Roter Rettich
Foto: Amadeus Waldner
Der Farbstoff in rotem Rettich wird als Lebensmittelfarbe genutzt


Zu Manna Organic kam Erlacher zufällig. Eigentlich wollte sie einen Kaffee trinken – dort, wo heute Gemüse vertrieben wird, war früher ein Café. Sie traf stattdessen auf Andreas Hofer und Heidi Hinterwaldner, die ehrenamtlich bei Manna Organic den Verkauf übernehmen. Die drei kamen ins Gespräch – der Rest ist Geschichte. Wer wissen will, wie die angefangen hat, muss in ein drittes Dorf fahren, nach Barbian, genauer gesagt: etwas außerhalb davon, auf den Aspingerhof. Auf einem halben Hektar Fläche, hoch am Hang gelegen, wachsen dort übers Jahr verteilt ungefähr 600 verschiedene Gemüsesorten. Verantwortlich für diese ist Harald Gasser, ehemals Sozialarbeiter, inzwischen Vollzeitbauer: "Ich hatte eigentlich nur ein neues Hobby gesucht", erzählt er, während er Erdrocken von einer kugelrunden Karotte pult. Cœur de Paris, Gassers Favorit unter seinen mehr als 15 Sorten Möhren.

Anfangs suchte er sich die Gemüsesorten, deren Saatgut er im Internet bestellte, nach Namen aus. Was ihm gefiel, kam in den Warenkorb. Glückskleerübchen zum Beispiel: "Das muss man doch probieren!" Nachdem er den Hof übernahm, zog er das Ganze professioneller auf und scheiterte erst mal, weil er da noch auf klassische Beete setzte. Heute folgt er den Prinzipien der Permakultur, nach der Pflanzen in Gemeinschaften angepflanzt werden und Nachbarpflanzen sich gegenseitig in Wachstum und Gesundheit unterstützen. Beigebracht hat er sich das selbst, genau wie den Anbau seiner Gemüsesorten.

Harald Gasser in der Natur stehend
Foto: Amadeus Waldner
Harald Gasser, geistiger Vater der alten Gemüsesorten


Mindestens drei Jahre dauert es, bis er eine neue Sorte produzieren kann. Im ersten wird die Pflanze beobachtet, wie sie wächst und Früchte trägt, im zweiten, wie sie sich vermehrt, im dritten wird das erlernte Wissen angewandt. Zum Beispiel beim Crosny, einem weißen raupenförmigen Knollenziest, der gerade am Hof in einem Bottich Wasser lagert: "Kohlenhydrathaltig, kurzkettig, kürzer als Topinambur", betet Gasser herunter. Roh erinnere es geschmacklich an Radieschen ohne Schärfe, er selbst esse es aber lieber angebraten.

So etwas findet er heraus, indem er es einfach ausprobiert. Nicht ganz ungefährlich sei das: Bevor Gasser mit seinen Gemüseexperimenten loslegte, speicherte er die Nummer der Giftzentrale. Anrufen musste seine Lebenspartnerin nur einmal. Da hatte er zu schnell zu viel zu Scharfes gegessen.

Apfelbäuerin Wally Erlacher
Foto: Amadeus Waldner
Apfelbäuerin Wally Erlacher


Von Gassers selbst erlernter Expertise profitieren vor allem die Köche der Südtiroler Spitzengastronomie. Sein Sonderweg hat Erfolg. Ein Vorbild wie er ist wichtig, um auch andere Landwirte davon zu überzeugen, eigene Wege im Einklang mit Pflanzen und Umwelt zu gehen und sich nicht weiter vom Handel vereinnahmen zu lassen, weiterzumachen auf andere Art und Weise. Und das nicht nur auf dem Acker. Erlacher, die Apfelbäuerin, wird nicht müde zu erklären, wie eng alles miteinander zusammenhänge und dass der Obst- und Gemüseanbau Teil eines nachhaltigen Lebensstils sei.

Ihr wie auch den anderen bei Manna Organic geht es ums große Ganze, um einen verantwortungsbewussten Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Äpfel, Möhren und Knollenziest sind da für sie nur der Anfang.