Fotoreihe von Sue Barr

Brückentage

Seit Jahren fotografiert Sue Barr alpine Beton-Brücken und italienische Autostrade. Die Künstlerin hält so einen Ingenieursstolz fest, der durch das verheerende Unglück in Genua ins Wanken gekommen ist

Autobahnen schlängeln sich wie natürliche Wasserströme durch die Landschaft: Die Oberfläche der Weltkugel wird in ein modernes Raster an Straßen gelegt, welche die Fortbewegung nicht nur erleichtern, sondern an bestimmten Stellen den Transit überhaupt erst ermöglichen. Neuer Raum wird durch Brücken erobert. Als Nutzer solcher Infrastrukturen wird man Teil davon, blickt aus ihnen heraus.

Die Künstlerin Sue Barr jedoch fotografiert die Strukturen von außen, schaut auf die Straßen, statt von ihnen aus in die Ferne. Die modernen Autobahnen ziehen sich durch hochkomplexe topografische Gegebenheiten und scheinen auch auf den Bildern der Londonerin ins Endlose zu verlaufen. Die Fotografien halten brutalistische Architektur fest.

Doch die sich monumental in die Höhe schlängelnden Bauwerke sind angesichts der tragenden Säulen "leichtfüßig", lassen den Raum offen. Die Aufnahmen zeigen die Brücken oft an Knotenpunkten oder sich überlagernden Betonecken. Ihre sich wiederholenden geometrischen Strukturen und Formen interagieren mit den natürlichen und urbanen Landschaften, fügen sich in ihre Umgebung ein. Sue Barr will zeigen, wie allgegenwärtig Brücken und Straßen mittlerweile sind. Für unser Auge sind sie nichts Ungewöhnliches.

Symbol des politischen und wirtschaftlichen Zustandes

Doch für die Fotoreihe "The Architecture of Transit" hat sich die Künstlerin nicht mit irgendeiner Verkehrsstrecke auseinandergesetzt. Denn die italienische Straße von den Alpen bis nach Neapel war ein Handelsweg, der seit der Antike und vor allem im 19. Jahrhundert vom europäischen Adel zu Studienreisen genutzt wurde. Auf die Grand Tour haben sich Johann Wolfgang von Goethe, Albrecht Dürer, Caspar David Friedrich und William Turner begeben. Die erste Autodstrada wurde 1924 in Betrieb genommen. Heute erstreckt sich das italienische Autobahnnetz auf 7.000 Kilometern, und die oft gewaltigen Brücken sind der Stolz vieler Italiener. Doch dieser Stolz ist spätestens seit Sommer 2018 erschüttert.

Denn als 2018 in Genua die Morandi-Brücke einstürzt, sterben 43 Menschen. Die Brücke hatte schon bei ihrer Eröffnung 1967 Statikprobleme aufgezeigt. Aufgrund des Baumaterials stand sie nicht nur unter Beobachtung, sondern war permanent von Baustellen geprägt. Die Verkehrspolitik der Fünf-Sterne-Bewegung geriet in Kritik. Hinzu kamen die Verantwortung des Bauunternehmens "Atlantia" und die Machenschaften der Mafia, die seit längerem in zweierlei Hinsicht im Baugewerbe mitmischt. Somit ist die eingestürzte Brücke im Herzen des Industrie-Dreiecks Italiens für viele zu einem Symbol des politischen und wirtschaftlichen Zustandes im Land geworden. Sue Barr konnte das natürlich nicht wissen, als sie ihre Serie Jahre zuvor begonnen hat.